Gebet: eine Fallstudie in mimetischer Anthropologie

Das Folgende ist der vorläufige Text einer von zwölf Vorlesungen über das vergebende Opfer – einer Erwachseneneinführung in das Christentum, an der ich zurzeit arbeite.

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1. Einführung

Eine der merkwürdigsten Eigenschaften der sonderbar unter-religiösen, als Neues Testament bekannten Textsammlung ist, wie wenig darin vom Beten die Rede ist. Wenn man in Betracht zieht, dass das Almosen spenden, beten und fasten in der Regel die sichtbaren Pfeiler dessen sind, was wir „Religion“ nennen, ist es eigentlich seltsam, wie wenig sich das Neue Testament damit befasst. Die einzige Stelle, an der alle drei mit einiger Sorgfalt behandelt werden, sind die ersten achtzehn Verse des sechsten Kapitels des Matthäusevangeliums. Und dort erfahren sie, wie ich zu zeigen hoffe, schwerwiegende Relativierung. Sie sind vollständig einem durchdringenden Verständnis der Funktionsweise des Begehrens untergeordnet und werden von ihm neu interpretiert.

Man wäre versucht, dies als etwas dem Matthäus eigenes zu verstehen und so von „Matthäus Verständnis des Begehrens“ zu sprechen. Das gleiche Verständnis ist jedoch auch bei Lukas, bei Johannes und beim hl. Paulus festzustellen. Tatsächlich vermute ich, dass wir uns in der Gegenwart dessen befinden, worauf sich René Girard in Der Sündenbockbezieht, wenn er davon spricht, dass die Texte des Neuen Testaments Zeugnis einer größeren Intelligenz ablegen, als die (zugegebenermaßen hochintellektuellen) Mitglieder des apostolischen Kreises, der sie verfasste. Ockhams Rasiermesser legt nahe, dass dies eine Intelligenz ist, die auf unseren Herrn selber zurückgeht.

Worum es mir hier geht, ist aufzuzeigen, wie genau diese Intelligenz in Girards mimetischer Theorie wiedergegeben wurde, indem ich zeige, was geschieht, wenn wir einige dieser Texte über das Gebet in diesem Licht lesen. Sie werden sehen, was für einen enormen Unterschied dies macht, im Vergleich zu einem Lesen, das auf volkspsychologischen Ansätzen über das Begehren basiert.

Wir beginnen mit einer kurzen Erinnerung an die beiden Ansätze. Zunächst der volkspsychologische Ansatz, den ich manchmal als das „Klecks und Pfeil-Verständnis“ des Begehrens bezeichne. Bei diesem Ansatz befindet sich in jedem von uns ein Klecks, den wir normalerweise als das „Selbst“ bezeichnen. Diese mehr oder weniger aufgeplusterte Einheit ist relativ stabil, und es gehen Pfeile von ihr aus, die auf Objekte abzielen. Also kann „ich“ mir ein Auto wünschen, ein Haus, einen schönen Urlaub, bestimmte Kleidung und so weiter und so fort. Das Begehren des Objekts kommt vom „ich“, das es verursacht, und daher ist dieses Begehren authentisch und ganz und gar „mein“. Wenn ich das gleiche Ding begehre, wie jemand anders, geschieht dies entweder zufällig und wir müssen einen sich daraus ergebenden etwaigen Konflikt rational lösen, oder es liegt daran, dass die andere Person mein Begehren imitiert, wobei mein Begehren selbstverständlich stärker und authentischer ist als deren zweitrangiges und nicht so angemessenes Begehren. Da mein begehrendes Selbst, mein „ich“ grundsätzlich rational ist, folgt daraus, dass mein Begehren grundsätzlich rational ist, und daher, dass ich anders bin als die Leute, von denen ich beobachte, dass sie eindeutig ein pathologisches Begehrensmuster aufweisen: Sich dauernd in unpassende potenzielle Partner verlieben und mit dem Kopf gegen die Wand die Konsequenzen angehen, oder von irgendwelchen Mitteln abhängig sind, oder immer die gleichen Verhaltensmuster beibehalten, die ihnen nicht gut tun. Diese Leute sind auf irgendeine Art krank und ihr Begehren entzieht sich allen Möglichkeiten eines rationalen Diskurses. Anders als ich und mein Begehren.

Wenn dies das richtige Verständnis von Begehren ist, dann ist das Neue Testament natürlich merkwürdig kurios, denn alles was es erreichte, wenn es über das Beten spricht, wäre uns stets dazu drängen uns selbst immer weiter dazu aufzupeitschen (und wie können „wir“ unser „selbst“ aufpeitschen?), immer mehr zu wollen. Wenn man diese Sicht weiterverfolgte, enthielte das Neue Testament in sich selbst den Keim der Zerstörung seiner eigenen Lehren über das Gebet, denn im Text des Matthäusevangeliums, mit dem wir uns noch genauer befassen werden, steht der Satz:

Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen. Macht es nicht, wie sie; denn euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet. [1]

Die logische Schlussfolgerung daraus ist, das Klecks-und-Pfeil-Verständnis des Begehrens vorausgesetzt, mit dem Beten aufzuhören. Es macht buchstäblich keinen Sinn, sein Begehren auszusprechen, da es unabhängig des Ausgesprochenwerdens bekannt ist, und das Aussprechen keinen Unterschied macht. Der Text des Neuen Testaments scheint ein Wegzeiger hin zum von niemandem abhängigen und der Religion gegenüber gleichgültigen modernen „Selbst“.

Wichtig ist auch festzuhalten, dass das Begehren vom Selbst ohne externe Anleitung bzw. Vermittlung erzeugt wird und daher nicht ausgesprochen werden muss, um wirklich zu werden, weshalb der unabhängige und sich selbstzündende „Klecks“ mit seinen Pfeilen daher auch radikal privater Natur ist. Zum Selbstverständnis des „Kleckses“ gehört, dass er eine defensive Rolle spielt, die das „wirkliche ich“ und sein „wahres Begehren“ schützt und versteckt, die stets zu einem gewissen Maß durch die grundsätzlich unzuverlässigen öffentlichen Welten des Kommerzes, des Geschäfts, der Politik und des Kriegs bedroht werden, in denen keine Diskurse verlässlich wahrhaftig sind. Was ich in der Öffentlichkeit sage, wie ich in der Öffentlichkeit auftrete und was ich in der Öffentlichkeit als meinen Wunsch darstelle, ist jeweils eine Form der Verstellung, da nur das private „Selbst“ echt ist. Und sehen Sie nur, wie wundersam der Text des Neuen Testaments diesem Selbstbild zu schmeicheln scheint, und sich damit wiederum selbst überflüssig macht. Denn wenn es einen Vers aus diesem Abschnitt des Matthäusevangeliums gibt, den fast jedermann kennt, so ist es die Stelle, an der Jesus, die Gebete der um Aufmerksamkeit heischenden öffentlich betenden Pharisäer verachtend, Folgendes sagt:

Du aber geh in deine Kammer, wenn du betest, und schließ die Tür zu; dann bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist. Dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten.[2]

Sehen Sie die anscheinende biblische Heiligsprechung des modernen individuellen Selbsts, das natürlich „spirituell“ ist, nicht „religiös“!

Nun lassen Sie uns sehen, ob wir diesen Text aus seiner Gefangenschaft im „Klecks-und-Pfeil- Verständnis“ des Selbsts retten und erkennen können, so dass er, anstatt unseren Vorurteilen zu schmeicheln, uns herausfordert.

2. Begehren gemäß des Anderen

Das Verständnis des Begehrens, das Girard seit fast einem halben Jahrhundert propagiert, und das oft als „mimetisch“ bezeichnet wird, ist so weit von diesem Bild entfernt wie nur möglich. Der Schlüsselsatz, den zu wiederholen ich nie ermüde, ist „wir begehren gemäß dem Begehren des Anderen“. Es ist der soziale Andere, die soziale Welt, die uns umgibt, die uns dazu bringt zu begehren, zu wollen und zu handeln. Das klingt nicht sonderlich herausfordernd, wenn es anhand der Unterhaltungsbranche veranschaulicht wird, die Berühmtheiten feiert, oder anhand der Werbebranche, der es gelingt, bestimmte Objekte bzw. Marken begehrenswert zu machen. Denn nur wenige unter uns sind so grandios, dass wir nicht zugeben würden, dass zumindest manches was wir begehren leicht zu beeinflussen und Suggestionen gegenüber offen ist. Der Satz wird um Vieles herausfordernder, wenn wir die Behauptung aufstellen, dass wir nicht nur von manchem was wir begehren sprechen, sondern von der ganzen Art, mit der wir Menschen vom Begehren geprägt sind.

Denn, was Girard aufzeigt, ist, dass es sich beim Menschen um ein zu den Kreaturen gehörendes Wesen handelt, bei denen sogar grundsätzliche biologische Instinkte (die selbstverständlich existieren und nicht das gleiche sind wie Begehren), von der sozialen Ordnung gestaltet werden, aus der ihr instinktgeprägter Körper geboren wurde. In der Tat erhalten wir die Fähigkeit unsere Instinkte zu empfangen und mit ihnen umzugehen dadurch, dass wir uns zum sozialen Anderen hingezogen fühlen, das uns dann in unser Leben als eben eine dieser Kreaturen einführt, indem es sich in uns reproduziert. Was diese Anziehung ermöglicht ist die hoch entwickelte Fähigkeit zur Nachahmung, die unsere Art von unseren nächsten affenartigen Verwandten unterscheidet.

Um es kurz zu machen: Gestik, Sprache und Gedächtnis sind nicht nur das, was „wir“ lernen, als ob es ein „ich“ gäbe, das lernte. Nein, es ist so, dass die durch diesen Körper nachahmend ins Leben des sozialen Anderen angezogenen Gesten, Sprache und Gedächtnis ein „ich“ formen, das eines der Symptome, der Begleiterscheinungen dieses sozialen Anderen ist. Dieses „ich“ ist viel formbarer als man gerne zugibt. Noch komplizierter ist die Aussage, dass es nicht das „ich“ ist, das Begehren verspürt, sondern es ist das Begehren, dass das „ich“ formt und aufrechterhält. Das „ich“ ist wie eine Momentaufnahme der Beziehungen, die bereits vor ihm existierten und deren Symptome es eines ist.

Dieses Bild ist äußerst unschmeichelhaft, da es das „ich“ aus der Verankerung der angenehmen heiligen Sicherheit herausreißt etwas zu sein, das „in der Mitte einer ziemlich zweifelhaften Welt selbst grundsätzlich gut“ ist. Statt dessen zeigt es auf, dass wir nicht auf einem gefährlichen Meer schwimmen, sondern im Gegenteil, dass wir selbst das gefährliche Meer sind, auf dem wir schwimmen. Unser Wirtschaftssystem, unsere militärischen Konflikte, unser Liebesleben, wie wir die Gesetze einhalten, all dies wird von den gleichen Begehrensmustern gesteuert. Mit anderen Worten, wir Menschen sind nicht nur indirekt von einer Kultur des Krieges und der Gewalt betroffen, sondern wir werden geradezu von ihr gesteuert. Wir finden uns als die Art wieder, die in Gruppen agierend „gegen“ ein zweckdienlich festgelegtes Anderes nach Identität greift, und die sich auf einen gewalttätigen Kontrast verlässt, um zu überleben, um ihren Wert zu definieren und um ihre Kultur zu schmieden.

Sie können sich vorstellen, dass das Gebet eine ganz andere Form einnimmt, wenn es von dieser Art von Kreatur gebetet wird. Denn in diesem Bild beginnt das Gebet unter der Voraussetzung, dass wir alle gemäß des Anderen begehren. Das wirft die Frage auf: ja, aber welches Anderen? Wir wissen, dass es ein soziales Anderes gibt, das uns unser Begehren vermittelt und das uns hierhin und dorthin verschlägt. Aber gibt es auch ein anderes Anderes, das nicht Teil der sozialen Ordnung ist, und das ein völlig anderes Begehrensmuster hat, in das es uns einführen möchte? Dies ist nun die große Frage der Hebräer, die Entdeckung Gottes, der nicht ein Gott unter vielen ist; unsere Texte über das Gebet sind Teil unserer Reise an der großartigen Antwort der Hebräer teilzuhaben.

3. Welches Andere?

Unsere Auffassung von uns selbst und von unserem Begehren ist so tief im „Klecks-und-Pfeil-Modell“ verankert, dass wir es schwer haben uns vorzustellen, dass die Autoren des Neuen Testaments der Welt näherstehen, die wir als von primitiven animistischen Kulten geprägt empfinden. Denn in der Welt animistischer Kulte ist es jedermann völlig offensichtlich, dass die Menschen von etwas anderem bewegt werden, als von sich selbst. Es ist ja so, dass in den verschiedenen Trancen bzw. Tänzen, in die die Teilnehmer mittels einer Mischung aus Musik und Chanting eingeführt werden, „Geister herunterkommen“ und von den Teilnehmern „Besitz ergreifen“ oder sie „reiten“. Das normale Verhalten der Teilnehmenden ist dabei zeitweise durch die leicht erkennbare öffentliche Persona des jeweiligen Geistes außer Kraft gesetzt.

Es ist daher vielleicht interessant zu sehen, wie viel näher Paulus dieser Welt steht, als wir uns das manchmal vorstellen:

Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. Aber auch wir, obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, seufzen in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden. Denn wir sind gerettet, doch in der Hoffnung. Hoffnung aber, die man schon erfüllt sieht, ist keine Hoffnung. Wie kann man auf etwas hoffen, das man sieht? Hoffen wir aber auf das, was wir nicht sehen, dann harren wir aus in Geduld.

So nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selbst tritt jedoch für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können. Und Gott, der die Herzen erforscht, weiß, was die Absicht des Geistes ist: Er tritt so, wie Gott es will, für die Heiligen ein. [3]

Umschreibend kann gesagt werden: „Wir sind Teil eines neuen sozialen Anderen, das unter Schmerzen und inmitten des Kollapses einer ausweglosen Art Mensch zu sein ins Leben gerufen wird. Dieses neue soziale Andere entsteht dadurch, dass wir lernen es zu begehren. Uns verlangt danach, aber wir können es nur schwer in Worte fassen. Die Spannung, die dabei entsteht, dass wir zwischen zwei Formen des sozialen Anderen hin und hergezogen werden ist für uns lebensnotwendig; was es uns ermöglicht so zu leben ist die Hoffnung. Da wir nicht wissen, wie wir begehren und unserem Begehren Ausdruck verleihen sollen, ist der Geist ein anderer Anderer, der in uns begehrt ohne uns dabei zu verdrängen, sodass wir es sind, die in die neue Schöpfung eingebracht werden.“

Beachten Sie dabei, was Paulus und den Animisten gemeinsam ist: das Verständnis, dass in uns begehrt wird, nicht dass wir selbst Begehrende sind. An sich betrachtet ist das weder positiv noch negativ. Es ist schlicht und einfach so, wie wir sind. Der Unterschied zwischen der Frage der Animisten und der der Hebräer ist nicht, ob wir durch andere bewegt werden, sondern von welchem anderen wir bewegt werden. Denn „Geister“, Idole und so weiter sind ja nur gewalttätige Tarnungen, mittels denen das soziale Andere uns bewegt, indem diese Geister uns zeitweise verdrängen, uns „ganz unserem Charakter entgegengesetzt“ handelnd machen, und uns zu Funktionen ihrer selbst gefangen nehmen, wobei sie in der Regel Opfer verlangen. Wohingegen der Geist Gottes der Geist des Schöpfers ist, und daher in keiner Weise die Funktion von irgendetwas Bestehendem. Im Gegenteil, alles Bestehende ist eine Funktion des Schöpfers. Der Schöpfer steht nicht in Rivalität zu uns und ist daher imstande, uns, ohne uns zu verdrängen, von innen heraus zu bewegen, uns ins Leben zu rufen.

Dabei sollten wir uns nicht von sprachlichen Unterschieden täuschen lassen: Gewöhnlich sprechen wir davon, dass Geister vom MenschenBesitz ergreifen, wobei dem Wort „Besitz“ ein Unterton von Gewalt innewohnt, die die Beziehung zwischen dem Geist und dem besessenen Mensch beschreibt. Wenn es sich aber um den Heiligen Geist handelt, sprechen wir vom Innewohnen eines Menschen, ein Wort ohne Konnotation von Gewalt. Beachten Sie aber dabei, dass der menschliche Mechanismus des Bewegtwerdens in beiden Fällen der Gleiche ist. Der Unterschied liegt in der Qualität des „Anderen“, das hier bewegt.

Ich hoffe, dass wir nun besser in der Lage sind, uns mit den Texten der Evangelien über das Gebet zu befassen.

4. Die öffentliche Natur des Begehrens

Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass die Texte die öffentliche Natur des menschlichen Zusammenlebens und menschlicher Beziehungen, einschließlich des Gebets, als gegeben ansehen. Wie aufgrund des Verständnisses vom Begehren, das ich versucht habe hier zu erläutern, zu erwarten ist es nicht etwa so, als ob es zwei gleichwertige und einander entgegengesetzte Realitäten gäbe: wer ich in der Öffentlichkeit bin, und wer im Privatleben. Statt dessen gibt es nur eine Realität: wer ich in der Öffentlichkeit bin. Das Private ist eine zeitweilige Unterfunktion einer grundsätzlich öffentlichen Existenz. Jesus und das Neue Testament insgesamt nehmen die öffentliche Natur des religiösen, kulturellen und politischen Lebens schlicht als gegeben. So betrachtet wird es plausibler, dass an verschiedenen Stellen beschrieben wird, dass Jesus sich zum Gebet zurückzieht. Diese Momente des Zurückziehens folgen typischerweise unmittelbar auf einen bedeutenden Dialog mit dem Volk nach einem vollbrachten Wunder. Es ist nicht schwer, den Grund dafür zu erkennen. Das Risiko, das jeder Anführer eingeht, insbesondere einer, der ein gewisses Maß an Erfolg hat, ist vom Begehren seiner Anhänger angesteckt zu werden, sich selbst im gleichen Licht zu sehen, in dem seine Anhänger ihn sehen, und sich durch Schmeicheleien dazu verleiten zu lassen, die in ihn gesetzten Projektionen zu erfüllen, und so zur Marionette des Begehrens der Menge zu werden.

Dass Jesus sich zum Gebet zurückzog, zeigt, dass er verstand, wie wichtig es war, sich dem Begehrensmuster zu entziehen, das ihn zu vereinnahmen drohte: Menschen, die ihn zum König krönen wollten, oder ihn auf eine Art zum Messias ausrufen wollten, die weit entfernt von dem war, was er sie zu lehren suchte. Er kannte das, was wir Versuchung nennen – das Risiko vom sozialen Anderen in ein Begehrensmuster gelockt zu werden, das als gut hingestellt wird, allerdings nicht gut ist. Und so musste er Zeit damit verbringen, sein „ich“ durch den Empfang eines Begehrensmuster eines anderen Anderen zu stärken. Ein klassisches Erkennen der Versuchung Jesu und seiner Weigerung, sich davon verzaubern zu lassen, geschieht, als er zu Petrus sagt: „Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen“[4]. Er verweigert den Versuch des Petrus ihn davon abzuhalten den Leidensweg einzuschlagen, der zu seinem Tod führen wird. Petrus ist mit dem Versucher verbunden, dem Stolperstein, und muss sich sagen lassen, dass er im Sinne der Kultur der Menschen denkt, nicht im Sinne der Kultur Gottes.

Dies gesagt habend, lassen Sie uns nun Jesu eindeutigen Lehren über das Gebet zuwenden, insbesondere denen, die wir in Matthäus 6 finden, aber auch mit Bezugnahme auf Lukas.

Was dabei als Erstes auffällt, ist, dass Jesu Kommentare zum Gebet in eine Lehre über das Muster des Begehrens eingebettet sind.

„Habet acht, dass ihr euer Almosen nicht gebet vor den Menschen,um von ihnen gesehen zu werden: wenn aber nicht, so habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater, der in den Himmeln ist. Wenn du nun Almosen gibst, sollst du nicht vor dir her posaunen lassen, wie die Heuchler tun in den Synagogen und auf den Straßen, damit sie von den Menschen geehrt werden. Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn dahin. Du aber, wenn du Almosen gibst, so lass deine Linke nicht wissen, was deine Rechte tut, damit dein Almosen im Verborgenen sei, und dein Vater, der im Verborgenen sieht, wird dir vergelten.“ [5] (Hervorhebung von mir)

Bevor er über das Gebet spricht, zeigt Jesus bereits ein Verständnis des Begehrens auf. Die Grundlage ist dabei, dass wir alle äußerst bedürftige Menschen sind, die sich nach Ankerkennung und Belohnung sehnen. Er sagt nicht: „Also, das ist doch wirklich zu kindisch. Ihr solltet nicht auf Anerkennung und Belohnung aus sein. Werdet endlich erwachsen und seit selbststartende, unabhängige, heroische Individuen, die allein aus rationalen Erwägungen heraus agieren”. Im Gegenteil, er sieht es als gegeben an, dass wir unbedingt Anerkennung benötigen. Die Frage ist: Wessen Anerkennung treibt uns an? Die Gefahr, vom sozialen Anderen Anerkennung zu suchen liegt darin, dass man sie bekommen wird, und dass man anschließend von dieser Anerkennung abhängig wird. Sie gibt einem buchstäblich das, was man ist und wozu man wird. Man agiert dann aus dem Muster des Begehrens heraus, das einem der soziale Andere gibt.

Früher dachte ich, dass der Satz „Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn dahin“, insbesondere wenn er dröhnend von einem calvinistischen Pfarrer mit schottischen Akzent ausgesprochen wurde, ein Euphemismus dafür sei, jemanden in die Hölle zu schicken. Es ist allerdings viel sinnvoller, ihn als eine anthropologische Beobachtung aufzufassen: das Problem des Suchens nach Anerkennung beim sozialen Anderen liegt darin, dass man sie bekommt. Man agiert genau so, dass man die Anerkennung erhält, und wird dann zu ihrer Marionette. Und weil das so ist, verkauft man sich damit unter Wert. Man will nicht genug, man hat zu wenig Begehren. Das „Selbst“ wird zum Schatten dessen, was es sein könnte, wenn man es dem Schöpfer erlaubte, einen ins Leben zu rufen.

(Nebenbei gesagt: ist es nicht interessant, dass Jesus als Beispiel anführt, wie man Almosen geben sollte, auf eine Art, die physiologisch fast unmöglich ist? Was soll das denn in der Praxis bedeuten, dass die linke Hand nicht weiß, was die Rechte tut? Es legt einen Mangel an persönlichem Koordinationsvermögen nahe, denn nur ein Mensch, der kein stabiles Selbst hat, erreichen kann. Ich bin mir nicht ganz sicher, was hier empfohlen wird, aber ich begann neulich, es doch in etwa zu ahnen. Nachdem ich einige Zeit lang den anscheinend endlosen Bitten um Geld eines Freundes nachgekommen war, den ich unterstützte, geriet ich in die Versuchung, einmal genau nachzurechnen, wie viel ich ihm in der Vergangenheit gegeben hatte, um so ein paar Rahmenbedingungen dahin gehend aufzustellen, wie sich mein Geben und unsere Beziehung überhaupt in der Zukunft gestalten könnte. Glücklicherweise bin ich kein guter Buchhalter, und überhaupt merkte ich, nachdem ich halb mit meinen Berechnungen fertig war, dass ich mich sozusagen an meiner eigenen Großzügigkeit festhielt und versucht war, sie zu etwas zu machen, was mich ihm gegenüber dahin gehend definierte, das es zu einem Druckmittel in der Beziehung würde. Und in diesem Moment des Festhaltens wurde mir auch bewusst, dass das, was ich getan hatte inzwischen kein Akt der Großzügigkeit mehr war, und dass ich nicht mehr jemand war, durch den die Großzügigkeit eines anderen Anderen fließen konnte.).

Wenn Jesus sich dem Gebet zuwendet, ist das Verständnis von Begehren identisch: Was die Menschen wirklich wollen, ist Anerkennung, insbesondere Anerkennung durch Dritte, und dies verleitet sie dazu, sich derart zu verhalten, dass sie diese Anerkennung erhalten. Und genau darin liegt das Problem. Sie erhalten die Anerkennung und mit ihr erhalten sie ein „Selbst“, das eine Funktion des Begehrens der Gruppe ist. Zugehörigkeit und Anerkennung gehen Hand in Hand. Das bedeutet übrigens auch, dass man anschließend mit großer Wahrscheinlichkeit mit Bezug auf die Gruppenzugehörigkeit seine Fähigkeit zur Selbstkritik verliert. Man vertuscht in sich selbst und bei den anderen Gruppenmitglieder all das, was zum Erhalt der Einstimmigkeit vertuscht werden muss, sowie um den eigenen Ruf, also das „Selbst“ zu erhalten.

Und wenn du betest, sollst du nicht sein wie die Heuchler; denn sie lieben es, in den Synagogen und an den Ecken der Straßen stehend zu beten, damit sie von den Menschen gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn dahin. Du aber, wenn du betest, so geh in deine Kammer und, nachdem du deine Tür geschlossen hast, bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist, und dein Vater, der im Verborgenen sieht, wird dir vergelten.[6]

Statt dessen drängt Jesus seine Jünger, ihr „Selbst“ von einem „anderen Anderen“ zu erhalten (wobei der matthäische Code für einen „anderen Anderen“ „der Vater, der im Verborgenen sieht“ bzw. „euer Vater im Himmel“ ist, also der Schöpfer, der partout nicht am Geben und Nehmen, an der „wie du mir, so ich dir” Wechselseitigkeit des sozialen Anderen teilnimmt). Das Bild, das Jesus hier verwendet, ist merkwürdig, da die meisten Übersetzungen von einer „Kammer“ sprechen, in die wir gehen sollen, und bei der wir uns meist unser Schlafzimmer denken, das unserer Vorstellung von einem privaten Ort entspricht. Das Wort ταμειον ist allerdings eher mit Abstellkammer, Vorratskammer oder Speiseschrank zu übersetzen. In Häusern im antiken Nahen Osten war dies ein völlig abgeschlossener, fensterloser Raum im Inneren des Hauses. In einer Kultur, die weder Zentralheizung noch Kühlschränke kannte, wurden in einem derart abgeschlossenen Raum verderbliche Lebensmittel gelagert, um sie so vor extremer Kälte bzw. Hitze zu schützen. Es bedeutete auch, dass man, war die Tür erst einmal von innen geschlossen, weder selbst nach draußen sehen, noch von dort gesehen werden konnte.

Kurzgefasst empfiehlt Jesus hier das psychologische Äquivalent der psychologischen Verlagerung, die wir im vorhergehenden Beispiel feststellen konnten. Er sagt: „Ihr seid abhängig davon so zu sein, wie ihr in den Augen der euch anbetenden oder verwünschenden Öffentlichkeit seid, das ist schon egal, denn sowohl die Liebe als auch der Hass der Menge sind auf gleichermaßen gefährliche Weise identitätsspendend. Geht also an einen Ort, an dem ihr gezwungenermaßen der Beurteilung derer, die euch eure Identität geben entzogen seid, damit euer Vater, der alleine nicht Teil dieses Gebens und Nehmens ist, die Chance hat, eure Identität ins Leben zu rufen.“

5. Die Schnittstelle von Begehren und Stimmen

Und hier ist das Problem damit, Zeit in der Speisekammer zu verbringen, von den Augen der Öffentlichkeit entfernt, ohne vor ihnen agieren zu können. Man verliert langsam sein Gefühl dafür, „wer man ist“. Man beginnt, an diesem merkwürdigen Ort zu existieren, den ich die Schnittstelle nenne zwischen seinen „eigenen“ Begehren, winzig klein und nur tastend ins Leben gerufen, ängstlich, ja verschämt, und den Stimmen, die einen bewegen und die man in der Tat so perfekt nachgesprochen hat. Ich gehe davon aus, dass ich nicht der Einzige bin, der, nachdem er einige Zeit allein verbracht hat, gelegentlich feststellte, dass ein anderer Mensch in mir sprach: Ich hörte die Stimme meines Vaters oder meiner Mutter, eines Schulrektors oder eines bewunderten Lehrers oder eines bekannten Politikers bzw. religiösen Oberhauptes. Mit anderen Worten, ich hatte mit meiner Stimme ein Begehrensmuster ausgesprochen, das ich von jemand anderem übernommen hatte. Und das selbstverständlich in fester Überzeugung, dass es in Wirklichkeit ich war, der hier sprach und begehrte. Mit anderen Worten, ich hatte ein Begehrensmuster als das meine angenommen, das mir von jemand anderem gegeben worden war. Und zwar in der festen Überzeugung, dass es in Wirklichkeit ich war, der hier sprach und begehrte.

Das kann ein sehr schockierender Augenblick sein, in dem ich mir bewusst werde, wie leicht ich mich selbst dazu bereiterklärte, alle zarten Anzeichen, die mich in eine andere, weniger eindeutige Richtung ziehen wollten, zu ignorieren bzw. sie zu zerstören, und mir stattdessen kopfüber die Persona zu eigen machte, die mir die Chance bot jemanden darzustellen, der Gewicht hat. Erst wenn ich Zeit in meiner Speisekammer verbringe, kann ich entdecken, dass der Eine, der mich im Verborgenen sieht, in mir ganz andere und viel reichhaltigere Begehren hervorbringt, die nicht an die leichten und engen Zwangsjacken meiner derzeitigen Persona gebunden sind. Des weitern ist es dem Einen, der mich im Verborgenen sieht, viel weniger eilig, dass ich Scham vermeide und mich anständig verhalte, als mir es das normalerweise selbst ist.

Stellen Sie sich doch einmal die folgende Kindheitsszene vor. Der kleine Peter macht sich zum Schlafen fertig. Seine Mutter kommt, um ihm eine gute Nacht zu wünschen und fragt: „Peter, hast du schon gebetet“? „Ja, Mama“. „Braves Kind. Und worum hast du Gott gebeten“? „Ich habe gebetet, dass es morgen Schokoladenpudding gibt und dass der FC Bayern am Samstag gewinnt“. „Oh nein, Peter, das geht nicht! Du darfst nicht beten, dass es morgen Schokoladenpudding gibt und der FC Bayern am Samstag gewinnt. Du solltest dafür beten, dass es mit den Leiden im Nahen Osten ein Ende hat, für die Hungerhilfe in Bangladesch und für die Missionspläne des Heiligen Vaters im Mai!“ Selbstverständlich akzeptiert der kleine Peter das und macht es sich zu eigen. Seine übel riechenden kleine Begehren wurden eindeutig zurückgewiesen und er lernt, sie zu verachten und statt dessen viel noblere Dinge zu wollen, Dinge, die in der Welt seiner Eltern Anerkennung finden. Ja, man hat ihm die Umkehrversion des Matthäusevangeliums beigebracht: Begehre gemäß des sozialen Anderen, damit zu Zustimmung findest.

Ja, und nun ist der kleine Peter auf dem besten Weg, ein perfekter Puritaner zu werden, ein Bewohner jener Welt, in der es Dinge gibt, die angenehm aber sündig sind, Dinge, die man zwar will, aber nicht zugeben darf. Auf der anderen Seite gibt es auch Dinge, die gut aber langweilig sind, die man zwar nicht wirklich will, aber von denen man am besten sagt, dass man sie wolle.

Interessant ist dabei, dass, wenn wir den Evangelien Glauben schenken, dies genau das Gegenteil dessen ist, was Gott möchte. Es scheint so, als ob „Dein Vater, der im Verborgenen sieht“ unsere übel riechenden kleinen Begehren keineswegs verachtet, sondern sogar nahelegt, dass wenn wir nur an ihnen festhalten könnten und darauf beständen, sie zu artikulieren, wir dann im Laufe der Zeit selber feststellten, dass wir selbst mehr möchten als diese Begehren, und dass wir etwas wirklich mit Leidenschaft wollten. Anders ausgedrückt nimmt Gott uns in unserer Schwäche und Unwichtigkeit ernst, selbst wenn wir das nicht tun. Wenn wir lernen, diese Begehren auszudrücken, dann besteht die Möglichkeit, dass wir im Laufe der Zeit organisch über sie hinauswachsen, bis wir zu den enorm Begehrenden geworden sind, die sich selber in die Friedensarbeit im Nahen Osten stürzen, oder in die Hungerhilfe in Bangladesch, oder die sogar zu der Art von Missionaren werden, für die der Heilige Vater im Mai beten lassen möchte. Aber wir tun dies weil wir, die wir anfänglich nicht wirklich wussten, was wir wollten, unsere kleinen Begehren nicht verachteten, sondern lernten, sie zu artikulieren, und so von innen heraus entdeckten, dass es dies ist, was wir wirklich wollen. Und in unserem Wollen werden wir die, zu denen wir uns entwickeln.

6. Das irritierende Fenster

Bevor wie uns wieder unserem Text aus dem Matthäusevangelium zuwenden, lassen Sie mich einige weitere Beispiele zu den Begehrensmustern, auf die die Texte der Evangelien hinweisen aufzeigen, denn sie passen gut in unsere Speisekammer oder Vorratskammer, in der wir in der Schnittstelle zwischen unserem Begehren und unseren internen „Stimmen“ leben – den Stimmen des sozialen Anderen, die wir verinnerlicht haben. Hier ist das Gebetsmodell, das Jesus uns im Lukasevangelium vorstellt: ein lästiges Fenster.[7]

Dann erzählte Jesus ihnen eine Parabel über die Notwendigkeit stets zu beten und nicht unbeherzt zu werden. OK, halten Sie diesen Gedanken einmal fest. Zunächst sieht es so aus, als ob Jesus hier dazu riete, dass man nicht den Mut verlieren soll. Ich möchte aber vorschlagen, dass es hier noch um mehr geht. Es geht darum, wie wir, indem wir zu beharrend Begehrenden werden, tatsächlich ein Herz erhalten, das wir erschaffen werden. Wenn wir nicht begehren, werden wir auch kein Herz haben.

Er sagte: „In einer Stadt lebte ein Richter, der Gott nicht fürchtete und auf keinen Menschen Rücksicht nahm.”

Beachten Sie bitte, dass dieser Richter ein perfekter, nicht-mimetischer Mensch ist. In der Tat gleicht er eher einem Betonklotz als einem Menschen, da er weder von einem sozialen Anderen noch dem anderen Anderen bewegt werden kann.

„In der gleichen Stadt lebte auch eine Witwe, die immer wieder zu ihm kam und sagte: Verschaff mir Recht gegen meinen Feind!”

Und hier haben wir eine unbequeme Person, die Art von Frau, die niemanden hat, der für sie eintritt, die keinen guten Ruf hat, und deren Genugtuung den Stadtbewohnern unwichtig ist. Sie ist das Äquivalent eines übel riechenden Begehrens. Aber sie ist hartnäckig und beharrt fest auf ihrer Forderung.

„Lange wollte er nichts davon wissen. Dann aber sagte er sich: Ich fürchte zwar Gott nicht und nehme auch auf keinen Menschen Rücksicht; trotzdem will ich dieser Witwe zu ihrem Recht verhelfen, denn sie lässt mich nicht in Ruhe. Sonst kommt sie am Ende noch und schlägt mich ins Gesicht.”

Der Richter hat ein beneidenswertes Maß an Selbsterkenntnis, denn er versteht ganz klar, dass er ein Betonklotz ist, der hermetisch von jeglichem mimetischen Einfluss abgeschirmt ist. Trotzdem gibt er schließlich nach, bestrebt danach einer Niederlage durch die gefürchtete Witwe zu vermeiden. Ich benutzt das Wort Niederlage hier bewusst, denn das Wort υπωπιαζη, das wir mit erschöpfen übersetzen, gehörte anscheinend zur Sprache des Ringkampfs oder des Boxrings.

„Und der Herr fügte hinzu: Bedenkt, was der ungerechte Richter sagt. Sollte Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht zu ihrem Recht verhelfen, sondern zögern?“

Glaubt Jesus wirklich, dass Gott ein ungerechter Richter ist? Natürlich nicht. Aber er weiß, dass wir alle in unserem Bewusstsein einen fest verankerten ungerechten Richter haben. In der Tat erwerben wir im Zuge unserer Sozialisierung eine Stimme oder einen Satz Stimmen, die allem anderen gegenüber völlig unempfindlich und undurchdringlich zu sein scheinen. Sollten wir so frech sein, etwas zu wollen, senden Stimmen uns schnell kleine Nachrichten: „Das würde ich an deiner Stelle nicht wollen – es ist besser, nicht so viel zu wollen, damit du nicht enttäuscht wirst“, oder „wir fühlen uns wohl als was Besseres, was?“, oder wie in der berühmten Szene in Oliver Twist: „Mehr?!!“ Der Sinn dieser Nachrichten ist es, unser Begehren abzuschalten, unsere Unzufriedenheit zu überspielen und bloße Marionetten unserer Gruppe zu bleiben. Unser ungerechter Richter wohnt jedem von uns inne, er ist das finstere „nein“ angesichts unseres möglichen Glücks.

Was Jesus jedoch empfiehlt, ist eine andauernde, hartnäckige Weigerung unsere übel riechenden Begehren zu unterdrücken, und sich stattdessen auf einen dauernden Guerillakrieg des Begehrens einzulassen, sodass sich schließlich die Blockade in unserem Hirn auflöst und dass, was für uns richtig ist, auch vorstellbar und erreichbar wird. Gott ist nicht wie der Richter ein hermetisch geschlossener Klotz, sondern er ist wie ein irritierendes Begehren, das stärker und stärker wird. Erst wenn wir etwas wirklich wollen, ist Gott in der Lage, es uns zu geben.

„Ich sage euch: Er wird ihnen unverzüglich ihr Recht verschaffen. Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, auf der Erde (noch) Glauben vorfinden?“

Merkwürdigerweise legt unser Herr am Ende seiner Lehre uns gegenüber eine gewisse Ambivalenz zutage: Fantasie und Begehren ergänzen sich auf positive Weise, und dies ist ein wichtiger Bestandteil des Glaubens: in der Lage zu sein, sich etwas Gutes vorzustellen, es daher zu wollen, und dann, je mehr man es will, desto mehr in der Lage zu sein, es sich immer kompletter vorzustellen. Er scheint sich hier darüber bewusst zu sein, dass wir ungeachtet dessen, was er in unseren Hirnen zusammenbrechen möchte, mit höchster Wahrscheinlichkeit mit viel zu wenig zufrieden sein werden, und uns an unsere verinnerlichten ungerechten Richter halten, und uns so nicht trauen, uns das Gute vorzustellen, das das Unsere sein könnte, und uns demnach nicht zu trauen, es zu wollen, schon gar nicht so, dass wir zu rasenden, zielstrebigen Athleten eines systemzerstörenden Begehrens werden. Er fragt sich, ob wir es uns wirklich erlauben, uns beherzen zu lassen.

Bevor ich von diesem Bild weitergehe, möchte ich auf einen wichtigen Aspekt der Art hinweisen, auf die das neue Selbst ins Leben gerufen wird, und zwar dadurch, dass man „ich will“ sagt. Bitte beachten Sie dabei, dass der einfache Vorgang etwas auszusprechen und es in der Tat oft auszusprechen, psychologisch gesehen viel wichtiger ist, als man annehmen würde. Denn es ist nicht ein „ich“, das dieses und jenes Begehren verspürt, dem es hier Ausdruck verleiht, sondern es ist so, dass der Körper, der alle ihn durchdringenden Begehren verspürt, die Bescheidenheit hat zu erkennen, dass er nur dadurch ins Leben gerufen werden kann, wenn er auf eine bestimmte Art geleitet wird, und dass er sich daher gewissermaßen zu einer bestimmten Art des Werdens verpflichtet. „Ich will dieses und jenes“ ist ein sich Verpflichten, das in einer bestimmten Art des Werdens wurzelt; eine Art von Harmonisierung. „Ich“ stimme zu, dass es das Begehren eines anderen ist, der mir vorausgeht und den ich verspreche anzunehmen, das mich in meiner Formbarkeit ins Leben ruft. Die Sprache macht dies öffentlich, weshalb es eine derartige Erleichterung sein kann, endlich sagen zu können: „ich will dieses und jenes“, und wenn auch nur im Privaten, denn das Aussprechen allein hat mir dabei geholfen, meine Scham zu überwinden, diese Art von Mensch zu sein, der so etwas will.

Abschließend ein paar Beispiele dazu, dass die Evangelien bezüglich des Betens von der gleichen Art des Begehrens sprechen. In Lukas 6:28 lesen wir:

„Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch misshandeln.”

Ich hoffe, dass es inzwischen viel offensichtlicher ist, dass dies ausdrücklich nicht bedeutet „Jesus will, dass ich ein Fußabtreter bin“. Im Gegenteil. Jesus weiß sehr gut, dass wir aufs Engste mit der Untergruppe des sozialen Anderen verwickelt sind, die unsere Feinde darstellt, auf die gleiche Art, auf die wir aufs Engste mit denen verwickelt sind, deren Akzeptanz wir suchen. Er weiß, wie anfällig wir für unsere Feinde sind, und genau so wie sie werden, indem wir mit ihnen gleichermaßen umgehen. Und so bietet er uns dieses Rezept für die Freiheit an: Lasst euch nicht von denen leiten, die euch Böses antun. Das bedeutet auch die Verweigerung der negativen Wechselseitigkeit und das Erlernen auf unsere Feinde von Herzen zuzugehen, und zwar ungeachtet dessen, was sie uns angetan haben. Tatsächlich sagt er: „Steigt aus dem Begehrensmuster heraus, in dem ihr und eure Feinde euch gegenseitig hörig seid, und steigt mühsam in ein Begehrensmuster ein, dass es euch erlaubt, nicht gegen sie alle zu sein, sondern wie Gott, für sie, auf sie zugehend, ohne ihr Rivale zu sein“.

Und falls Sie glauben sollten, dass ich mir dies alles aus den Fingern sauge, ist die Version dieses Spruches bei Matthäus sehr lehrreich:

„Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.” [8] (Hervorhebung von mir)

Die Begründung für das Beten für unsere Feinde ist klar dargelegt: damit man Teil des Begehrensmuster des anderen Anderen werden kann, der keinen Anteil an dieser Wechselseitigkeit hat, am wie du mir, so ich dir, am Guten und Bösen des sozialen Anderen, sondern der völlig außerhalb von ihm steht, nicht in Rivalität mit ihm zu finden ist, und der ihm gegenüber wahrlich großzügig ist.

7. Sich selbst mit den Augen des Anderen sehen

Lassen Sie uns nun in unsere Speise- bzw. Vorratskammer zurückkehren, um dort die Merkwürdigkeit dieses Ortes, der Schnittstelle zwischen unserem Begehren und den Stimmen, die es leiten, weiter zu betrachten. Bislang habe ich das Negative betont; den Bruch, der entsteht; das, von dem wir getrennt werden; wie wir durch das Ansehen des sozialen Anderen geleitet werden. Nun beachten Sie aber bitte, dass es gar keine Alternative dazu gibt, vom Ansehen eines Anderen geleitet zu werden. Es ist nicht etwa so, dass wir die falschen Identitäten, die uns vom sozialen Anderen gegeben wurden, einfach abstreifen könnten, und dass sich darunter schimmernd unsere wahre Identität, vom sozialen Andern unbehindert entfaltete.

Nein, wir empfangen unser selbst immer durch die Augen eines Anderen. Das wirklich Schwere am Gebet ist es zu lernen, uns durch die Augen eines anderen Anderen zu empfangen. Denn wie ist das bloß, von einem anderen Anderen angesehen zu werden? Was sagt dessen „Ansehen“ uns darüber, wer wir sind und wer wir werden?

Ich denke, dass der Kollaps des „Selbsts des Begehrens”, der in dem Moment beginnt, in dem wir aus dem Angesehenwerden des sozialen Anderen heraustreten, viel leichter bemerkbar ist, als das viel stillere und eher unmerkbare ins Leben rufen eines neuen Selbsts des Begehrens, ohne protziges Auftrumpfen und kleinen Häppchen von begriffenem, mit falschen Bedeutungen durchtränkten Selbst. Aber genau hier ist es, wo die Fantasiearbeit, für die Jesus in seinem Beispiel über das irritierende Fenster plädiert, ihren rechten Platz einnimmt. Denn während wir die Grenzen unserer, vom sozialen Anderen geformten Vorstellungskraft ausdehnen, können wir vielleicht flüchtig erkennen, dass wir von einem angesehen werden, der an all diesem keinen Anteil hat.

Was versteht man, zum Beispiel, unter dem Begriff der TodeslosigkeitGottes? Und ich meine hier jetzt nicht die gewöhnlichen, mit „Unsterblichkeit“ oder „Ewigkeit“ einhergehenden Assoziationen, die im Sinne von Unverletzbarkeit, oder „eine endlos lange Zeit andauernd“ verwendet werden. Nein, was wir meinen, wenn wir davon sprechen von Gott betrachtet zu werden, ist, dass wir von jemandem angesehen werden, der αθανατος ist – ohne Tod. Jemandem für den, anders als für jeden anderen, denn wir kennen oder jemals kennenlernen werden, der Tod einfach kein Parameter ist, keine Wirklichkeit hat, keine Grenze darstellt, keine Beschränkung bedeutet. Also jemandem, von dessen Standpunkt aus Sterblichkeit, die Existenz in einer begrenzten Zeit, unsere Wirklichkeit also, völlig anders aussehen. Jemandem, dessen Wunsch uns dazu bringen kann, so zu handeln, als ob es keinen Tod gäbe. Dies ist die Art des Ansehens, die uns dazu bringen kann, an die Möglichkeit zu glauben, dass es lohnenswert ist, Projekte anzufangen, deren Erfüllung wir vielleicht nicht mehr erleben werden. Diese Art des Ansehens, das genügend Zeit hat, um nicht von meinem Versagen betroffen zu sein, das es mir ermöglicht, den Raum mit denen zu teilen, die mich verachten, weil ich mir meiner langfristigen Perspektive sicher sein kann. Es ist eine Art des Ansehens, für die der berühmte Ausspruch von Keynes: „Langfristig sind wir alle tot“ schlicht bedeutungslos ist, denn die einzige Zeit, die langfristig existiert, ist die, in der der Tod nicht existiert. Was bedeutet es also, von Augen angesehen zu werden, die nur die Fülle kennen, für die Knappheit schlicht keine Realität ist, für die es immer noch mehr gibt? Stellen Sie sich den Riss vor, den dies in unseren Begehrensmustern erzeugt! „Wenn du zu viel willst, ist nicht genug für alle da“, oder „umsonst ist nur der Tod und der kostet das Leben“, oder „Nimm dir was du kannst, bevor nichts mehr da ist“, oder einfach das düstere, deprimierte „ach, Mensch!“ der Enttäuschung darüber, dass die Dinge und das Leben an sich nicht den Erwartungen entsprechen; in der Welt zu leben und alles mit den alten Hebräern als Eitelkeit und Sinnlosigkeit zu empfinden. Wie sieht es dagegen aus, Zeit im Angesicht dessen zu verbringen, für den es nicht etwa die Knappheit ist, die durch das Fördern von Rivalität zum Überfluss führt, wie unser kapitalistisches Wirtschaftssystem das voraussetzt, und die wir dann segnen und Konkurrenz nennen?

Stattdessen ist die zugrundeliegende Realität der enorme, müßige, kreative Überfluss; ein endloses Magis, ein „mehr“, ist stets vorhanden.

Wie sieht es aus, Zeit im Angesicht dessen zu verbringen, für den Wagemut und Abenteuer, nicht Furcht und Vorsicht dem gesamten Schöpfungsprojekt zugrunde liegen, für den alles, was ist offen ist und auf mehr als sich selbst verweist, und zugunsten dessen wir eingeladen sind, an der Begeisterung und der Rasanz des Anderen teilzuhaben, verrückte und unvorstellbare Dinge zu wollen und zu erreichen?

Wie ist es, im Angesicht dessen zu sitzen, der uns laut zuruft „etwas aus dem Nichts, etwas aus dem Nichts“? Unser Begehrensmuster sagt „ähm… nichts kommt von nichts“ und tut sich selbst leid. Dabei ist der Unterschied zwischen Atheismus und einem Glauben an Gott-der-nicht-einer-der-Götter-ist im Kern keine Ideologie, sondern ein Begehrensmuster, dass sich am „etwas aus dem Nichts“ begeistert. Die wunderbaren Verse des Jesaja, frisch vom großen Durchbruch zum Monotheismus im 6. Jahrhundert v. Chr. rufen es aus [9]:

Auf, ihr Durstigen, kommt alle zum Wasser! Auch wer kein Geld hat, soll kommen. Kauft Getreide und esst, kommt und kauft ohne Geld, kauft Wein und Milch ohne Bezahlung! Warum bezahlt ihr mit Geld, was euch nicht nährt, und mit dem Lohn eurer Mühen, was euch nicht satt macht? Hört auf mich, dann bekommt ihr das Beste zu essen und könnt euch laben an fetten Speisen. Neigt euer Ohr mir zu und kommt zu mir, hört, dann werdet ihr leben. Ich will einen ewigen Bund mit euch schließen gemäß der beständigen Huld, die ich David erwies.

Dies ist eine Definition von Gott, die ganz außerhalb des Begehrensmusters liegt, das das soziale Andere uns einimpft: „etwas aus dem Nichts“.

Die Worte Todeslosigkeit, Überfluss, Wagemut und etwas aus dem Nichts sind nur einige der Ausdrücke, mit denen die heilige Schrift versucht unsere Vorstellungskraft dahingehend anzuregen, Zeit in einem Ansehen zu verbringen, das nicht das Ansehen des sozialen Anderen ist, sondern das einen Wunsch, eine Sehnsucht und ein Herz hat, die füruns sind, um so vieles mehr für uns, als wir es selbst für uns sind; dem wir vertrauen können, dass ihm unser langfristiges Interesse am Herzen liegt. Und jedes Mal, wenn wir einige Zeit im Angesicht des anderen Anderen verbringen, wird in uns eine Art in der Öffentlichkeit zu leben erzeugt, die allen Erwartungen des Begehrensmusters entgegengesetzt zu sein scheint, das das soziale Andere in uns hervorruft. Unsere zeitweilige Abwesenheit vom öffentlichen Leben macht uns nicht etwa privater. Statt dessen ermöglicht sie es uns auf eine neue Art öffentlich zu leben, bei der Unsicherheit und Verletzlichkeit auf einer unvorstellbaren Sicherheit ruhen.

8. Nicht Las Vegas verlassen

Lassen Sie uns nun endlich zu Matthäus und dem Fazit über Jesu Bemerkungen zum Beten zurückkehren. Ich hoffe, dass sich diese Stellen nun ganz anders lesen:

Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen. Macht es nicht wie sie; denn euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet.[10]

Ich stand einmal auf einem Hügel mit Ausblick auf den Titicacasee und beobachtete, wie die dortigen Jatiris, Schamanen bzw. Priester ihre Waren anpriesen. Man konnte zu ihnen gehen, und für ein angemessenes Scherflein zündeten sie um einen tragbaren Schrein herum Kerzen an, verbrannten Weihrauch und sagten die nötigen Gebete bzw. Beschwörungsformeln auf, die aus einer erstaunlichen Mischung von Lateinisch, Quechua, Aymara und Spanisch bestanden. Die Gebete bzw. Beschwörungsformeln waren für eine sich ziemlich wiederholende Liste von Bitten: Schutz vor dem bösen Blick des Nachbars, schnellen Reichtum, den Tod einer lästigen Schwiegermutter, dass eine unerwiderte Liebe erwidert wird und verschiedene Arten der Rache.

Das Muster schien sehr einfach zu sein: Gott, oder die Götter, sind eine Art himmlischer Glücksspielautomat aus Las Vegas, voll von erstaunlicher Freigiebigkeit aber mit der Neigung, seine Gunst zurückzuhalten. Das Beten ist demnach die Kunst, diese kapriziöse Gottheit mit genau den richtigen Worten und den genau richtigen Rhythmen so zu schmeicheln, dass sie einige ihrer Schätze freigibt. Gerade so, als sei der Priester ein besonderer Experte des richtigen Umgangs mit Glücksspielautomaten, der sicherstellen kann, dass drei Zitronen oder fünf Goldbarren erscheinen, und die Gottheit so manipuliert, dass sie ihren Reichtum ergießt.

Dem liegt ein Verständnis des Begehrensmusters zugrunde, bei dem wir die Subjekte sind, die hier im Sattel sitzen, und Gott ist ein Objekt, das zu manipulieren ist: Wir sind wieder bei unserem Klecks-und-Pfeil-Verständnis des Begehrens angekommen. Was Jesus allerdings lehrt, ist das genaue Gegenteil. In der Vorstellung Jesu ist es Gott, der das Subjekt ist, der Begehren hat, eine Absicht, ein Sehnen, und der weiß, wer wir sind und was gut für uns ist, während wir die kapriziösen und ziemlich trägen Glücksspielautomaten sind, deren Handgriffe ständig von den falschen Spielern gezogen werden. In diesem Bild ist es gerade deshalb, weil unser Vater weiß, was wir benötigen noch bevor wir ihn darum bitten, dass wir lernen müssen zu beten: Der einzige Zugang, den unser Vater zu uns hat, die einzige Art, auf die er die Handgriffe betätigen kann, ist unsere Bitte, in unser Begehrensmuster einzugreifen.

Sie erinnern sich, dass beim Klecks-und-Pfeil-Verständnis des Begehrens Jesu Worte: „Euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet“ so wirken, dass sie alles Beten sinnlos machen. Ich hoffe jedoch hier gezeigt zu haben, dass mit einem mimetischen Verständnisses des Begehrens die gleichen Worte das genaue Gegenteil bedeuten. Sie werden zum dringenden Grund dafür, beten zu müssen: Damit wir dem Einen, der im Gegensatz zu uns weiß, was gut für uns ist, dessen Begehren für uns und für unsere Erfüllung ist, anders als das Begehren des sozialen anderen mit seinen gewalttätigen Fallen, erlauben, uns von innen heraus neu zu schöpfen, uns ein „Selbst“ zu geben, ein „ich des Begehrens“, das tatsächlich ein stetiger Fluss von Schätzen ist. Wir bitten also darum, ein Symptom dieses Begehrensmusters zu werden, anstatt ein Symptom des Begehrensmusters des sozialen Anderen, das uns dazu verstrickt, so viel weniger zu werden.

9. Schlussbemerkungen zum Vaterunser

Und damit führt Jesus uns zum Vaterunser hin.

So sollt ihr beten: Unser Vater im Himmel, dein Name werde geheiligt, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf Erden. Gib uns heute das Brot, das wir brauchen. Und erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern rette uns vor dem Bösen. Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, dann wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.[11]

Aus Platz- und Zeitgründen kann ich mich hier nicht mit jeder einzelnen Zeile befassen. Für unserer Zwecke reicht es, hier zwei Dinge hervorzuheben, die hoffentlich offensichtlich sind. Zum Ersten geht es im Vaterunser allein um das Begehren. Es beginnt mit der Anrede des anderen Anderen, das sich manifestiert, ein Begehren hat, eine Absicht, ein Vorhaben und eine Wirklichkeit, die weit vor dem bestanden, was der soziale Andere kennt, und die dennoch zum Ereignis im Leben des sozialen Anderen werden können. Und zweitens geht es davon aus, dass wir vollständig mimetische Kreaturen sind, und unterstreicht diesen Tatbestand. Die Güte des anderen Anderen kann nur insoweit in uns freigesetzt werden und uns durchdringen, als wir uns darauf einlassen, von der Gruppe unserer sozialen Anderen freigesetzt zu werden. Und so wie unser „Selbst“ sein Wesen allein dank des sozialen Anderen erhält, erhält unser „neues Selbst“ sein neues Wesen nur in dem Ausmaß, in dem wir uns von diesem sozialen Anderen freimachen. Es ist nur in unserer Beziehung zu dem, was anders ist als wir es sind, dass wir selbst bestehen. Beachten Sie dabei bitte, dass Jesus darauf besteht, dass das sich Loslösen vom sozialen Anderen und durch den anderen Anderen losgelöst zu werden, ein und dasselbe sind. Es ist der einzige Teil des Vaterunsers, den Jesus wiederholt, und damit die grundsätzliche Anthropologie noch einmal verdeutlicht.

Ich hoffe Sie stimmen mit mir überein, dass sich ein „Begehren nach dem Begehrensmuster des Anderen“ und das Konzept der absoluten und mechanischen mimetischen Funktionsweise unseres Begehrens nicht wie fremde Zusätze in diese Texte anfühlen, sondern dass sie eine bereicherte Art des Lesens anbieten, die sich in deren Fluss anpasst und die uns dabei helfen kann, uns mitten im Abenteuer Gebet anzusiedeln.

São Paulo, Februar 2009

Endnoten

[1] Matthäus 6,7-8.

[2] Matthäus 6,6.

[3] Römerbrief 8, 22-27.

[4] Markus 8, 33.

[5] Matthäus 6, 1-4.

[6] Matthäus 6, 5-6.

[7] Lukas 18, 1-8.

[8] Matthäus 5, 44-45.

[9] Jesaja 55, 1-3.

[10] Matthäus 6, 7-8.

[11] Matthäus 6, 9-15.


© 2009 James Alison. Translation by Erika Baker