Einige Gedanken zur Sühne und Versöhnung

Vor einigen Jahren versuchte ich in einem Buch mit dem Titel On Being Liked einige Grundlagen zu entwickeln, mit deren Hilfe man darüber nachdenken könnte, was es bedeutet zu sagen, dass Jesus für unsere Erlösung gestorben ist. Das war und ist immer noch ein aktuelles Projekt. Seit ich diese Kapitel schrieb, half mir die Arbeit von Margaret Barker sehr viel weiter, insbesondere das Buch The Great High Priest [1] sowie ihre Studie zum Buch der Offenbahrung, The Revelation of Jesus Christ [2]. Barkers Erkenntnisse passen meiner Meinung nach außerordentlich gut zu den neutestamentarischen Detektivarbeiten von Wissenschaftlern wie J. Duncan, M. Derrett [3] und der Anthropologie des Begehrens, die uns von René Girard erhellt wurde [4], und eröffnen uns so die Möglichkeit eines ergiebigeren und tieferen Verständnisses der Sühne und Versöhnung, und zwar eines Verständnisses, von dem ich hoffe, dass es nicht nur dabei helfen kann, die Spaltungen innerhalb des Christentums bezüglich der Interpretation über die Bedeutung von Jesu Tod zu überwinden, sondern das auch einen viel positiveren Ausdruck der Jüdischkeit dieses erlösenden Todes darstellt, als wir das normalerweise gewohnt sind.

Und so möchte ich Ihnen quasi einen Fortschrittsbericht darüber geben, wohin uns dieses Verständnis meiner Meinung nach führt, indem ich Ihnen eine These unterbreite. Es ist meine These, dass das Christentum eine priesterliche Religion ist, die weiß, dass Gott unsere Gewalt überwand, indem er sich selbst zum Sühnenopfer machte, und das genau dies es uns ermöglicht, uns der Fülle der Schöpfung so zu erfreuen, als ob es keinen Tod gäbe.

Zunächst also sollte ich an dieser Stelle nun das zusammenfassen, was herkömmlicherweise die Theorie der stellvertretenden Sühne genannt wird und mit der wir uns auseinandersetzen müssen. Es handelt sich dabei eine bestimmte Kristallisierung von Texten in einer Weise, die uns gefangen hält. Mir liegt daran aufzuzeigen, wie wir von diesem zweidimensionalen Verständnis zu einem dreidimensionalen gelangen können, und wie wir erkennen können, dass in Wirklichkeit alle kreativen Stränge dieser Geschichte in eine völlig andere Richtung fließen. Hier also die standardgemäße Geschichte, die Sie in der einen oder anderen Version sicher bereits kennen:

Gott erschuf das Universum, einschließlich des Menschen, und es war gut. Dann kam es auf die eine oder andere Art zum Sündenfall der Menschheit. Dieser Fall war eine Sünde gegen Gottes unendliche Güte, Gnade und Gerechtigkeit. Und so gab es nun ein Problem. Die Menschen konnten die durcheinandergebrachte Ordnung nicht von sich aus wieder herstellen. Schon gar nicht konnten sie es wieder gutmachen, gegen Gottes unendliche Güte verstoßen zu haben. Keine endliche Wiedergutmachung konnte einer Tat mit unendlichen Konsequenzen gerecht werden, und Gott hätte völlig zurecht die gesamte Menschheit zerstören können. Aber Gott war nicht nur gerecht sondern auch gnädig, und so überlegte er, wie er die Sache wieder in Ordnung bringen könnte. Hätte er die Dinge in seiner unendlichen Güte nicht einfach auf sich beruhen lassen können? Ja, das hätte er vielleicht gerne getan, aber auch er war seiner eigenen unendlichen Gerechtigkeit verpflichtet. Nur eine endlose Vergeltung konnte hier genug sein; etwas, was die Menschen nicht leisten konnten, was aber Gott selbst leisten konnte. Und doch musste die Vergeltung von den Menschen aus kommen, da sie ansonsten keine wirkliche Vergeltung für die zu sühnende Freveltat darstellte. Und so kam Gott auf die Idee, seinen Sohn als Menschen in die Welt zu schicken, sodass der Sohn als Mensch den Preis bezahlen könnte, der, da auch er Gott war, endlos sein und so die nötige Genugtuung erzielen würde. Auf diese Art ließe sich die ganze traurige Geschichte angenehm abschließen. Die Menschen, die sich darauf einließen, ihre Sünden zu überdecken indem sie sich am wertvollen Blut des Heilands festhielten, den der Vater sich selbst geopfert hatte, würden von ihren Sünden errettet und dem Heiligen Geist teilhaftig, der es ihnen ermöglichte, sich gemäß der ursprünglichen Schöpfungsordnung zu verhalten. Nach ihrem Tod wären sie zumindest in der Lage, das Himmelsreich zu erben, was ja der Originalplan gewesen war, bevor der Sündenfall alles kaputt gemacht hatte.

Anstatt mich nun über diese Lesart lustig zu machen, möchte ich behaupten, dass sie deshalb problematisch ist, weil sie viel zu wenig konservativ ist. Ich möchte hier eine viel konservativere Auslegung vorstellen. Und zunächst möchte ich so konservativ sein vorzuschlagen, dass das Hauptproblem dieser traditionellen Lesart ist, dass es sich um eine Theorie handelt, während Sühne und Versöhnung selbst zunächst Liturgie waren.

In unserer modernen Welt klingt das nicht nach einem großen Kontrast, da wir eine verarmte Vorstellung von der Liturgie haben. Dabei sind wir uns gar nicht bewusst, wie sehr unser Beharren auf der Idee der Theorie unser Leben erschwert. Tatsächlich bedeutet die Interpretation von Sühne und Versöhnung als Theorie, dass es sich um eine Idee handelt, die verstanden werden kann – und wenn man sie erst mal verstanden hat, dann „hat” man sie. Während dagegen Liturgie etwas ist, was mit und an einem geschieht. Ich möchte noch einmal zurückgreifen und etwas von dem erhellen, worum es bei der Liturgie der Sühne und Versöhnung ging, denn wenn wir das verstehen, können wir besser nachvollziehen, was mit den Worten „Sühne“ und „Erlösung“ ausgesagt werden soll.

Erinnern wir uns daran, dass wir hier von einer uralten jüdischen Liturgie sprechen, von der wir nur dank bruchstückhafter Rekonstruktionen darüber, was sich möglicherweise im ersten Tempel abspielte, wissen. Für diese Liturgie ging der Priester ins Allerheiligste. Bevor sich der Hohepriester ins Allerheiligste begab, opferte er zur Sühne seiner eigenen Sünden einen Stier oder ein Kalb. Dann betrat er das Allerheiligste, nachdem er zuerst durch das Los eines von zwei Lämmern oder Ziegen ausgewählt hatte, eine Ziege, die der Herr war, (die andere Ziege würde dann Azazel, der „Teufel“ sein). Er nahm diese erste Ziege mit in das Allerheiligste und opferte sie. Dann besprenkelte er den Gnadensitz (den Thron, über dem sich die Cherubim befanden), den Schrein usw. mit ihrem Blut.

Nur dem Hohepriester war es gestattet, den heiligen Ort zu betreten. Das Interessante ist nun, dass der Priester, nachdem er seine eigenen Sünden mithilfe des Stiers gesühnt hatte, ein leuchtend weißes Gewand anlegte, das Gewand eines Engels. Ab diesem Augenblick war er nicht mehr ein Mensch sondern ein Engel, zu dessen Namen auch „Sohn Gottes” zählte. Und er war in der Lage „den Namen“ anzulegen, also „den Namen, der nicht ausgesprochen werden konnte“, den Namen des Herrn, der durch seine vier Buchstaben JHWH gekennzeichnet wird. Mit dem im Gebetsriemen enthaltenen Namen entweder um die Stirn oder die Arme gewunden, konnte er nun in das Allerheiligste eintreten. Er war nun „Jahwe für den Tag”, eine engelsgleiche Ausströmung des allerhöchsten Gottes. Erinnern Sie sich an den Satz: „Gesegnet ist der, der im Namen des Herrn kommt“? Das ist eine Bezugnahme auf den Ritus der Sühne, das Kommen des Hohepriesters, und einer der vielen Hinweise auf den Ritus der Sühne, die wir im Neuen Testament finden, und die wir zum Großteil nicht einmal erkennen!

Der Hohepriester wird also die engelhafte Verkörperung von JHWH, und einer der Titel dieses Engels ist „Sohn Gottes”. Er opfert die Ziege, die „der Herr“ ist, und sprenkelt ihr Blut umher. Der Sinn der Sache war es, die Unreinheiten zu beseitigen, die sich in dem angesammelt hatten, was als Mikrokosmos der Schöpfung verstanden wurde, denn dem Verständnis des Tempels gemäß war das Allerheiligste der Ort, dem der Schöpfer jenseits und außerhalb der Schöpfung innewohnte. Man hatte damals die Vorstellung, dass die Schöpfung vom Tempelschleier ab nach außen hin begann, während das Allerheiligste außerhalb von Zeit, Materie und Raum existierte. Beim Ritus der Versöhnung kam der Herr selber, der Schöpfer, aus dem Allerheiligsten hervor, um die Menschen von ihren Unreinheiten, Sünden und Verfehlungen zu befreien. Mit anderem Worten, der ganze Ritus war genau das Umgekehrte von dem, was wir uns gewöhnlich unter einem priesterlichen Ritus vorstellen. Was das Opfersystem angeht, so haben wir eher die Vorstellungsweise der Azteken. Das Kennzeichen deren Opfersystems ist die priesterliche Darbringung eines Opfers zur Besänftigung irgendeiner Gottheit.

Der jüdische priesterliche Ritus stellte bereits einen enormen Fortschritt gegenüber dieser Welt dar. Sie wussten genau, dass bei heidnischen Riten zum Erhalten der Schöpfung Opfer dargebracht wurden. Ihr eigenes Verständnis war dem gegenüber fortgeschritten, da sie bereits vor der Zerstörung des Tempels und dem Auszug nach Babylon verstanden, dass es in der Tat Gott war, der hier am Werk war, das es Gott war, der sich hier zeigte und der aufgrund seiner Liebe zu seinem Volk die Schöpfung wiederherstellen wollte. Und so ist es denn JHWH, der aus dem Allerheiligsten ganz in Weiß gekleidet erscheint, um den Menschen ihre Sünden zu vergeben und, was noch wichtiger ist, es zu ermöglichen, dass sich die Schöpfung weiterhin ergießt.

Es geht also um die Vorstellung, dass die Menschen dazu geneigt sind, die Schöpfung zu zerstören, und dass Gott selbst aus dem Ort kommt, der all das symbolisiert, was vor der Schöpfung da war, dem „Ort des Schöpfers“. Das Allerheiligste war der Ort, der die Zeit „vor dem ersten Tag“ symbolisierte, was natürlich bedeutete, bevor es die Zeit selbst überhaupt gab, bevor die Schöpfung erschaffen war.

Der Priester ging aus diesem Allerheiligsten hervor und trat durch den Tempelschleier. Dieser war aus kostbarem Material gefertigt und symbolisierte die erschaffene materielle Welt. Dann legte der Hohepriester eine Robe an, die aus dem gleichen Material gefertigt war wie der Tempelschleier, um so zu zeigen, dass das was er hier spielte, das Hervortreten Gottes war, der in die erschaffene Welt eintrat, um Sühne zu leisten, und das, was die Menschen getan hatten, und was die Schöpfung minderte, wieder gut zu machen. Und dann, nachdem er hervorgetreten war, besprenkelte er den Rest des Tempels mit dem Blut, das das Blut des Herrn war.

Das Interessante an der Sache ist, dass dem Verständnis des Tempels nach, der Hohepriester in diesem Moment „in der Person Jahwes” agierte, und dass es das Blut des Herrn war, was hier versprüht wurde. Dies war die göttliche Handlung, die die Menschen befreite. Es war keineswegs so, wie wir uns das oft so vorstellen, dass der Priester eine Gottheit besänftigte. Der Grund, aus dem der Priester vorher seine eigenen Sünden sühnen musste, lag darin, dass er zu einem Zeichen für etwas viel Bedeutenderes werden würde: dem nach außen hin Handeln. Die Handlung ist nicht nach innen zum Allerheiligsten gerichtet, sondern sie kommt vom Allerheiligsten und ist nach außen gerichtet.

Der Priester kam also durch den Schleier, was bedeutete, dass der Herr in die erschaffene Welt eintrat, und besprenkelte dort den Rest des Tempels und befreite ihn so. Danach setzte er, in der Rolle dessen, der die angesammelten Sünden trug, diese auf den Kopf dessen, den wir “den Sündenbock” nennen, Azazel, der man dann aus der Stadt vertrieb, bis an den Rand einer Klippe, von der her heruntergestoßen und getötet wurde, damit so den Menschen die Sünden abgenommen würden.

Nach dem, was wir wissen, war dies der Ritus der Sühne. Das Faszinierende daran ist, dass das jüdische Verständnis der Version der Azteken, die wir auf die jüdische Version zurückführen, bereits weit überlegen ist. Bereits zu jener Zeit verstand man, dass es nicht so war, dass Menschen verzweifelt versuchten, Gott zu besänftigen, sondern dass Gott die Initiative ergriff und zu uns durchbrach. Mit anderen Worten, die Sühne war etwas, das uns zugutekam. Das ist der erste Punkt, den ich hier festhalten möchte, wenn ich betone, dass wir hier von einer Liturgie sprechen anstatt von einer Theorie. Wir sprechen von etwas, das im Laufe der Zeit als Teil einer auf uns gezielten, positiven, göttlichen Initiative mit und an uns geschieht.

Dies wirft auf viele Dinge ein etwas anderes Licht. Es bedeutet zum Beispiel, dass es sich bei unserem theoretischen Bild von Gott als jemandem, dessen Zorn besänftigt werden muss, um eine heidnische Vorstellung handelt. Dem jüdischen Verständnis nach war es umgekehrt so, dass Gott uns etwas anbot. Und nun kommt der Knackpunkt: die Urchristen, die das neue Testament schrieben, wussten ganz genau, dass Jesus der authentische Hohepriester war, der den, vor langer Zeit geschaffenen ewigen Bund, wiederherstellte; der von einem heiligen Ort kam, sich selbst zu unserer Sühne anzubieten, als konkretes Ausleben und konkrete Demonstration Gottes Liebe zu uns; und dass Jesus dies ganz bewusst tat.

Es gibt eine Reihe von Stellen, an denen wir eine Ahnung dieser Sprache erkennen. Eine davon ist die Stelle, an der Jesus die Rolle des Melchisedek übernimmt. Die Ankündigung des Jubiläums, über die Jesus in der Synagoge in Nazareth predigt, handelte von der Art, auf die der Priester Melchisedek wiederkommen und auf die Befreiung, die „Sühne” bzw. „Erlösung” des Volkes hinarbeiten würde. In der Tat erfüllt Jesus mit dem, was er sagt und tut genau die Absichten des Melchisedek, wozu auch gehört, dass er nach Jerusalem reist und getötet wird.

In den anderen Evangelien wird dies auf andere Art dargestellt. Das klassische Beispiel stammt aus Kapitel 17 des Johannesevangeliums. Jesu letzte Ansprache an seine Jünger vor der Passion ist eine Rede, die sich auf das Versöhnungsgebet des Hohepriesters stützt. Anschließend macht sich Jesus daran, die Rolle des Hohepriesters auszuleben, der den neuen Tempel in seinem Leib zugänglich macht, was Johannes bereits zu Beginn seines Evangeliums angedeutet hatte.

Johannes macht dies zum Beispiel darin ersichtlich, dass Jesus am Donnerstag und nicht am Freitag gekreuzigt wird. Er geht also am Donnerstagnachmittag außerhalb der Stadtmauern, um genau zu der Zeit getötet zu werden, zu der die Priester im Tempel das Passahlamm schlachten, um drei Uhr nachmittags. Während sie also Lämmer schlachteten, ging das wahre Lamm, das als „Lamm Gottes” ausgewiesen war, zum Platz seiner Hinrichtung. Und erstaunlicherweise ging er in einer Robe „ohne Naht” gekleidet, einer Priesterrobe: Daher die Bedeutung der Tatsache, dass die Robe keine Naht hatte, und dass man um sie würfeln musste, statt sie zu zerreißen. [5] Der Hohepriester, der Herr, ging also „zum Tempel”, wo der „das Lamm” sein würde, denn, wie uns weiter gesagt wird, wenn sie ihn nach seinem Tode ansehen, merken sie, dass keiner seiner Knochen gebrochen war – auch dies eine Anspielung auf das Passahlamm.

Die Identifikation ist vollendet. Dann ist da ja noch im Johannesevangelium der Ausruf des gekreuzigten Jesu „es ist vollbracht”, „es ist vollendet”, was bedeutet, dass die Versöhnung und damit die Inaugurierung der Schöpfung vollendet ist. Der Satz: „Ich werde zu meinem Vater gehen“, ist im Johannesevangelium immer synonym mit „ich werde in den Tod gehen, in dem ich emporgehoben werde, und so meinen Vater verherrliche“. Wir kennen alle diese Stellen, aber wir sehen sie gewöhnlich nicht im Zusammenhang mit Jesus als dem authentischen Hohepriester, der Hohepriesterliches tut.

Man kann aber erkennen, dass es damals so verstanden wurde, denn im Johannesevangelium befinden wir uns im Anschluss daran unmittelbar nach der Wiederauferstehung im Garten. Wir sind wieder „am ersten Tag” angekommen, und wir sind „im Garten”. Petrus und Johannes kommen, sich umzusehen, und dann tritt auch Maria Magdalena ein. Und was sieht sie? Zwei Engel! Und wo sitzen diese Engel? Einer am oberen, der andere am unteren Ende eines Raums, der offen ist, weil der Stein weggerollt wurde. Und worum handelt es sich bei diesem Raum? Es ist das Allerheiligste. Es ist der Gnadensitz, um den sich die Cherubim gesellen [6]. Das Allerheiligste ist nun offen, da die Schöpfung sich nun völlig frei ergießen kann. Es gibt keine Verwirrungen der Schöpfung mehr. Das Allerheiligste wurde geöffnet. Der Hohepriester, der nicht zuerst einen Stier für seine eigenen Sünden opfern musste, da er ohne Sünde war, ging dort ein. Denn ihm war es möglich, aus dem Platz der Schöpfung in die ganze Welt hinein zu kommen.

Und vergessen wir nicht, dass Jesus im Hebräerbrief, in einem Großteil der Paulusschriften und im Johannesevangelium als das Wort Gottes beschrieben wird, das von Anbeginn mit der Schöpfung war – „alle Dinge sind durch ihn geschaffen“. Dies ist hohepriesterliche Sprache des Einen, der von Gott kommt, um Sühne anzubieten, und so die Schöpfung zu öffnen. Das ist es, was hier erfüllt wird. Im Johannesevangelium bekommt man eine Ahnung davon, dass genau dies hier vorgetragen wurde: Jesu Erfüllung der Liturgie der Sühne und Versöhnung. So weit so gut! Dies ist eine Erklärung, die es uns ermöglicht zu verstehen, dass Jesus die uralte Liturgie der Sühne und Versöhnung sozusagen von innen heraus untergräbt – eine Liturgie, die auch in der Periode des zweiten Tempels praktiziert wurde [7].

Im zweiten Tempel gab es dann keinen Gnadensitz mehr. Das Allerheiligste war nun völlig leer. Die priesterlichen Mysterien waren verloren gegangen. Und dies war einer der Gründe für die Begeisterung darüber, dass hier nun ein Priester war, der das Versprechen erfüllen und die priesterlichen Mysterien wiederherstellen würde. Wobei diese Wiederherstellung natürlich auf verzerrte Weise, sozusagen hinter den Kulissen stattfand: Der wahre Hohepriester war damit befasst, das Opfer zu sein, der Priester, der Altar und der Tempel auf der Müllhalde der Stadt, während die korrupten Kerle, wie sie von den Juden zu jener Zeit beurteilt wurden, im korrupten zweiten Tempel, um den sich die meisten nicht besonders kümmerten, das Ganze mechanisch durchexerzierten. Sie hielten den Tempel nicht für das Wahre und viele der Zeitgenossen Jesu sahen den Tempel, den sie kannten, und die Priesterschaft, die ihn betrieb, na, sagen wir mal als die Diet-Pepsi-Version des schon lange verloren gegangenen Coca Colas an.

Von unserem Standpunkt aus sind das alles Aspekte der Sühne und Versöhnung. Jesus erfüllt eine Reihe von Prophezeiungen über ein liturgisches Geschehen, das für uns weitgehend mysteriös ist. Ich bespreche das hier deshalb, weil es für unser Verständnis sehr wichtig ist, dass wir begreifen, dass das was wir sehen nicht einfach die Abschaffung von etwas Schlechtem ist, sondern dass es darum geht, dass jemand etwas erfüllt, was als gut angesehen wurde, aber noch nicht gut genug. Sehen Sie den Unterschied? Es bedeutet, dass unsere Tendenz, die ganze Welt der Priesterschaft und des Opferns als „unglückliches semitisches Überbleibsel“ zu lesen, wirklich grundlegend falsch ist. Dem jüdischen Priestersystem verdanken wir nicht nur einige der außergewöhnlichsten Texte, die von den hebräischen heiligen Schriften noch vorhanden sind, sondern es war auch das Muster, durch das das Zusammenhalten der Beziehung zwischen der Schöpfung und der Erlösung ermöglicht wurde. Und es ist das Muster des katholischen Glaubens, das ich hier etwas weiter erforschen möchte: Es ist der Gedanke, dass Gott uns die Möglichkeit eröffnete, an der Fülle der Schöpfung mitzuwirken, indem er in unserer Mitte zum Opfer wurde.

Wir alle reagieren richtigerweise auf bloße Liturgie etwas allergisch. Wir haben damit recht, denn es ist etwas, worauf auch das Neue Testament besteht. Die Genialität Jesu lag ja, unter anderem, auch darin, dass er das Liturgische und das Ethische zusammenbrachte, und gerade aus diesem Grund ist ja die Sühne bzw. Versöhnung für uns von Bedeutung. Denn, was Jesus tat, war nicht etwa die Erfüllung einer Reihe von Prophezeiungen bezüglich eines etwas skurrilen uralten Ritus, zu dem viel Blut und Zündelei gehörten. Was Jesus leistete, und das ist das Faszinierende, war ein außerordentlicher anthropologischer Durchbruch. Und dies ist es, was die Sühne und Versöhnung „stellvertretend” macht.

Ich möchte hier zunächst etwas abschweifen: Was wir normalerweise mit dem „theoretischen” Ansatz unter stellvertretender Sühne und Versöhnung verstehen, ist Folgendes: Gott war auf die Menschheit böse, Jesus sagte: „Hier bin ich”. Gott musste einen Blitzstrahl aussenden, und so sagte Jesus: „Du kannst ihn auf mich aussenden” und nahm stellvertretend die Strafe an. Bumm: Der Blitz schlägt ein: Das Opfer wurde durchgeführt: Gott ist glücklich: „Meine Blutgier wurde befriedigt“.

Das Interessante ist allerdings, dass das Neue Testament auf ein völlig anderes Verständnis hinweist: Was Jesus tat, war sich selbst für eine ganze Reihe von Stellvertretern zu substituieren. Das menschliche Opfersystem funktioniert typischerweise so: Die primitivste Form des Opfers ist das Menschenopfer. Nachdem den Menschen bewusst wurde, was sie da taten, substituierten sie für die Menschen Tiere. Es ist immerhin leichter, Tiere zu opfern, denn sie wehren sich nicht so sehr; Wenn man dagegen ein Opfersystem hat, für das man ständig neue Opfer benötigt, muss man gewöhnlich eine Kriegsmaschine betreiben, die genügend Opfer für das System hervorbringt. Oder man muss irgendwo sogenannte „pharmakons” wie Haustiere halten [8] – praktische Halb-Insider, Halb-Outsider, die in Saus und Braus leben, bis es zu einer Krise kommt, in der man Menschen opfern muss, und dann opfert man eben sie. Aber es ist eine unschöne Geschichte, und Menschen sind eben Menschen, und so begann man, an deren Stelle Tiere zu opfern. In manchen Kulturen ging man dann von Tieren zu anderen, eher symbolischen Formen des Opfers über, wie zum Beispiel dem Opfern von Brot und Wein. Zum Thema stellvertretendes Opfern gibt es fast jede kulturelle Variante.

Das Interessante ist nun, dass Jesus genau den umgekehrten Weg geht, und dass er uns ausdrücklich erklärt, dass er genau den umgekehrten Weg gehen würde. „In der Nacht bevor er verraten war…..” was tat er? Er sagte: „Anstelle von Brot und Wein ist hier das Lamm, und das Lamm ist ein Mensch.” Anders ausgedrückt, er substituierte einen Menschen wieder zurück ins Zentrum des Opfersystems, als den Priester, und zeigte uns so, worum es beim Opfersystem wirklich ging, um es so zu Ende zu bringen. Er war der Hohepriester, der Portionen seiner selbst als Lamm an seine Mitpriester austeilte, genau so wie der amtierende Hohepriester Portionen des geopferten Lamms unter den anderen Priestern verteilte.

Und so kommt es zu einer wahrhaften Substitution, die für das christliche Ausleben der Sühne und Versöhnung angemessen ist. Alle Opfersysteme sind stellvertretende Systeme. Was wir aber bei Jesus vorfinden, ist die genaue Inversion des Opfersystems: Er geht rückwärts und nimmt diesen Platz ein, um klarzumachen, dass es schlicht und einfach Mord ist. Und dass es nicht sein muss. Das ist es, was wir im Johannesevangelium erfahren: die Erkenntnis, dass Jesus der Welt das verlogene System offenbarte. Diese menschliche Struktur wird nur dadurch aufrechterhalten, dass wir uns gegenseitig töten, und uns selbst davon überzeugen, dass es unser Recht und unsere Pflicht ist, und wir uns so gegenüber unseren Opfern selbst aufbauen. Im Johannesevangelium versteht Jesus sich als der, der den Mechanismus aufzeigt. Und indem er ihn aufzeigt, nimmt er ihm jede Macht, da er offenbart, dass es sich um eine Lüge handelt: „Euer Vater war von Anbeginn an ein Lügner und ein Mörder“. So funktioniert das Prinzip dieser Welt.

Aus dem Johannesevangelium geht die ganz klares Erkenntnis hervor, dass das Auflösen des Opfertums nicht nur eine Sache der Liturgie ist, nicht einfach ein liturgisches Erfüllen. Jesus substituiert sich selbst im Zentrum dessen, woran die liturgische Tradition sowohl erinnert, als auch dessen was sie verdeckt, nämlich das Menschenopfer, und ermöglicht es uns so damit zu beginnen, ganz ohne Opfer zu leben. Damit ist nicht nur das liturgische Opfer gemeint, sondern, was noch wichtiger ist, der menschliche Mechanismus andere Menschen zu opfern, damit wir selber bestehen bleiben können. Mit anderen Worten, was Jesus uns ermöglichte, war es, damit anzufangen so zu leben, als ob es keinen Tod gäbe, und wir uns daher nicht vor ihm schützen müssen, in dem wir auf anderen Menschen herumtrampeln. Sehen Sie, wie er das Ethische und das Liturgische im gleichen Raum zusammenstellt, so dass dieser zum Raum dichter anthropologischer Offenbarung wird? Wenn Jesus das liturgische und das ethische Verständnis des Opfertums zusammenbringt und uns so aufzeigt, was wir typischerweise tun und dass wir es nicht mehr tun müssen, zeigt Gott uns etwas Neues über uns selbst.

Die Hinweise im Johannesevangelium, wonach Jesus diesen Mechanismus als den „des Fürsten der Welt” verstand, machen klar, dass dies auch zu Jesu Zeiten so gesehen wurde. Man findet aber auch bei Paulus einige äußerst erhellende Hinweise.

Hier eine Geschichte aus 2 Samuel [9], die uns wieder in die Welt der Sühne, Besänftigung und Versöhnung zurückführt, und zwar in die anthropologische, nicht the liturgische Sphäre. Sie wissen, die beiden sind miteinander verbunden, aber sie wurden noch nicht eindeutig miteinander verknüpft:

Zur Zeit Davids herrschte drei Jahre hintereinander eine Hungersnot. Da suchte David den Herrn auf (um ihn zu befragen). Der Herr sagte: Auf Saul und seinem Haus lastet eine Blutschuld, weil er die Gibeoniter getötet hat. Da rief der König die Gibeoniter zu sich und redete mit ihnen. Die Gibeoniter stammten nicht von den Söhnen Israels ab, sondern von einem Rest der Amoriter. Obwohl die Israeliten sich ihnen gegenüber mit einem Eid (zum Wohlwollen) verpflichtet hatten, versuchte Saul in seinem Eifer für die Söhne Israels und Judas, sie zu vernichten. David sagte also zu den Gibeonitern: Was soll ich für euch tun? Womit kann ich Sühne leisten, damit ihr dem Erbe des Herrn wieder Segen bringt? Die Gibeoniter antworteten ihm: Wir wollen weder Silber noch Gold von Saul und seinem Haus; auch steht es uns nicht zu, jemand in Israel zu töten. David sagte: Was meint ihr, was soll ich für euch tun? Sie sagten zum König: Der Mann, der uns vernichten wollte und der darauf aus war, uns auszurotten, sodass wir uns in keinem Gebiet Israels mehr hätten halten können, von dessen Söhnen soll man uns sieben Männer geben. Wir wollen sie vor dem Herrn im Gibea Sauls, des vom Herrn Erwählten, hinrichten. Der König antwortete: Ich will sie euch geben. Merib-Baal, den Sohn Jonatans, des Sohnes Sauls, aber verschonte der König wegen der Abmachung zwischen David und Jonatan, dem Sohn Sauls, die sie mit einem Eid beim Herrn bekräftigt hatten. Der König nahm Armoni und Mefi-Boschet, die beiden Söhne, die Rizpa, die Tochter Ajas, dem Saul geboren hatte, und die fünf Söhne, die Michal, die Tochter Sauls, dem Adriël, dem Sohn Barsillais aus Mehola, geboren hatte. Er lieferte sie den Gibeonitern aus, die sie auf dem Berg vor dem Angesicht des Herrn hinrichteten; so kamen alle sieben auf einmal um. Sie wurden in den ersten Tagen der Ernte getötet, zu Beginn der Gerstenernte.

Kurze Zeit darauf waren Hungersnot und Trockenheit verschwunden. Eine wunderbare Geschichte! Das Interessante an ihr ist, dass sie eindeutig das offenlegt, was wir so oft vergessen: Wie das Konzept der Sühne funktionierte. Hier sühnt der König David und bietet den Gibeonitern etwas zur Besänftigung und Versöhnung an. Anders ausgedrückt, die Gibeoniter haben das Recht, Rache zu fordern, ihnen wird etwas geschuldet, und David bietet es ihnen an. Paulus scheint diese Geschichte zu kennen, schreibt der doch im Römerbrief [10]: „Was ergibt sich nun, wenn wir das alles bedenken? Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns? Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“

Sehen Sie, worauf Paulus hier hinweist? Paulus sagt, dass im Gegensatz zu David, Gott nicht jemand anderen als stellvertretendes Opfer sucht, um uns zu beschwichtigen, sondern dass er seinen eigenen Sohn zur Sühne schenkte (was für einen Monotheisten wie Paulus bedeutete, dass er sich selbst schenkte), und so die Versöhnung erzielte.

Wer besänftigt im Samueltext wen? König David besänftigt die Gibeoniter, indem er ihnen die Söhne des Saulus gab. Gott besänftigt also uns. Anders ausgedrückt, wer ist in der Geschichte die zornige Gottheit? Wir sind es. Das ist der Zweck der Sühne und Versöhnung. Wir sind die zornige Gottheit. Wir sind es, die auf unseren Zorn beharren und meinen, dass wir der Rache bedürfen, um zu überleben. Gott nahm den Platz unseres Opfers ein, um uns zu zeigen, dass wir dies nie wieder tun müssten. Damit wird das Sühne-Verständnis der Azteken völlig umgekehrt. Auch völlig auf den Kopf gestellt wird das, was wir gewöhnlich unter der Theorie des stellvertretenden Sühnenopfers verstehen, die stets davon ausgeht, dass wir Gott Genugtuung leisten, dass Gott besänftigt werden muss, dass es in Gott Rache gibt. Wobei aus dem Neuen Testament eindeutig hervorgeht, dass Paulus davon begeistert war, dass Jesu Selbstaufgabe und das Vergießen seines Blutes ganz klar offenbarten, wer Gott war: Gott war völlig ohne Rache, völlig ohne substitionäre Tricke, und er gab sich selbst vollständig ohne Ambivalenz und Doppeldeutigkeit für uns, auf uns zu, um uns „von unseren Sünden zu befreien“ – wobei „unsere Sünden“ unsere Art ist, miteinander in Tod, Rache, Gewalt und dem, was man im Allgemeinen „Zorn“ nennt, verbunden zu sein.

Was für uns besonders schwierig ist, und weshalb ich daran erinnern möchte, dass es sich hier um eine Liturgie handelt, nicht um eine Theorie, ist, dass wir dies als Christen dadurch ausleben, indem wir uns daran erinnern, dass das eine wahre Opfer erbracht wurde, was heißt der Moment, an dem Gott sich selbst für uns in unserer Mitte als Opfer gab. Es ist vorbei! Das ganze Opfersystem wurde damit beendet. Das Allerheiligste wurde auf immer geöffnet.

In unseren theologischen Vorstellungen zeigt sich dies an der Lehre der Himmelsfahrt. Erinnern wir uns daran, was zu Beginn der Apostelgeschichte passiert. Jesus befindet sich mit den Aposteln auf einem Hügel vor Jerusalem, und dann fährt er in den Himmel auf. Auf seinem Weg segnet er sie – das heißt wir haben einen Hohepriester vor uns. Sie standen und sahen auf; und da war ein paar Engel, die natürlich unsere alten Freunde, die Cherubim des Allerheiligsten sind, das nun überall war, und die sagten: „Warum steht ihr da und seht zum Himmel auf? Geht und wartet darauf, von oben herab ermächtigt zu werden“. Nachdem das Opfer vollbracht wurde geht Jesus „zu Sitzen zur rechten Hand des Vaters“: auf dem Platz des Priesters, des Wortes, des Schöpfers. Dies sind die Vorzeichen unter denen wir leben. Und liturgisch leben wir unter ihnen durch unsere Teilnahme am Abendmahl.

Der Sinn des Abendmahls ist nicht etwa, dass wir versuchen, Jesus zu uns herunterzuholen, sondern dass wir Jesu Anweisungen gehorchen, ihn anzurufen, dies zu seinem Gedenken zu tun, auf dass wir so selbst am „himmlischen Bankett” teilnehmen, an dem Ort, an dem das Lamm geschlachtet dasteht, wie es in der Vision im Buch der Offenbahrung beschrieben ist. Es ist dies eine Vision des Allerheiligsten; eine Vision des Allerheiligsten, das nun offen ist und sich überall hin ergießt. Es ist das eine wahre Opfer, das nun vollbracht ist. Das bedeutet nicht: „Alles erledig“. Es bedeutet, dass das siegreiche Lamm da ist; das Opfer, das vergebende Opfer, ist gegenwärtig. Und wir haben Zugang zur Teilnahme an dieser Sühne und Versöhnung, die uns mittels des Abendmahls zugänglich gemacht wird. Das Abendmahl ist für uns das Hervortreten des Hohepriesters aus dem Allerheiligsten, der uns seinen Leib und sein Blut gibt, auf dass wir so Teil der lebenden Priesterschaft und ein lebender Tempel in der Welt sein können.

Wenn dieses Bild richtig ist, dann scheint es, dass es in der Eucharistie darum geht, dass wir ein Volk sind, das durch den Leib und das Blut des bereits siegreichen, sich selbstgebenden Opfers in den neuen Tempel verwandelt werden. Wir werden in den neuen Tempel verwandelt, der am Leben des hier und jetzt auf uns zukommenden Gottes teilhaben kann. Das ist es, worum es bei der Lehre über die Transsubstantiation geht. Sie bedeutet: Dies ist nicht nur ein Erinnerungsmahl, sondern es ist das himmlische Bankett, in dem jemand anders der Protagonist ist, und in das wir über uns selbst hinaus gerufen werden. Wir sind „durch den Schleier“ zur Teilnahme gerufen. Uns sind Zeichen gegeben; weshalb der Leib und das Blut nicht etwa die Gottheit verstecken, sondern sie offenbar machen. Es sind die Zeichen, die uns davon zeugen, was Gott in der Tat für uns tut.

All dies geschieht im Himmel. Das ist der Zweck der Himmelfahrtslehre: Das Allerheiligste ist erfüllt, und wir erhalten nun all das, was aus ihm strömt.

Das hat ethische Konsequenzen. All dies ist für unser Verständnis von ungemeiner Bedeutung, denn wenn man eine Theorie der Sühne und Versöhnung hat – etwas verstanden hat – dann hat man etwas, was man „richtig verstehen“ kann, und wenn man es richtig verstanden hat, ist man auf der Seite der Guten. „Wir sind die Leute, die vom Blut bedeckt sind; wir sind die, die ok sind, die Guten, und dann gibt es da noch die anderen, die es nicht sind.“ Anders ausgedrückt, anstatt dass Sühne und Versöhnung mit und an uns geschehen, sind wir Menschen, die sich am Gedanken der Sühne und Versöhnung festhalten. Der ganze Zweck des christlichen Verständnisses ist es aber, dass wir uns nicht zu schnell mit den Guten identifizieren sollten. Im Gegenteil, wir sind Menschen, mit und an denen ein stetes „ICH BIN“ geschieht, was bedeutet, dass Gott stets als der auf uns zukommt, der als unser Opfer Vergebung anbietet. Und wir lernen, uns gegenseitig als Menschen zu erkennen, die sagen: „Oh, also das ist es, woran ich teilhatte.“ Was bedeutet, dass wir die „anderen” in diesem Paket sind; dass wir die „anderen” sind, die in so weit zu einem „wir” umgewandelt werden, als wir mit unseren Brüdern und Schwestern an unseren Seiten Gleichsamkeit finden. Dies ist es, und nicht: wir sind die Menschen, die ein Teil des ICH BIN geworden sind, weil wir die Theorie verstanden haben, und „die anderen” sind eben irgendwelche „anderen”. Wenn an einem und mit einem Sühne und Versöhnung geschehen, dann geht ständig jemand auf einen zu, der einem vergibt. Das, so scheint mir, ist die Herausforderung an unsere Vorstellung und Neuvorstellung von Sühne und Versöhnung.

Es ist für uns schwer, in einem ständigen Prozess auszuharren, in dem jemand auf uns zukommet. Da wir an Theorie gewöhnt sind, hätten wir es gerne, dass jemand sagt: „Genau so ist es. Verstehe nur die Theorie richtig. Und dann setze sie um.” Diesem ist die Vorstellung inhärent, dass wir Teil eines stabilen Universums sind, das wir kontrollieren können. Wenn aber der wahre Mittelpunkt unseres Universums ein „ICH BIN“ ist, das uns als unser, uns vergebendes Opfer entgegenkommt, dann befinden wir uns nicht in einer stabilen Lage. Wir sind in einer Situation, in der wir destabilisiert werden, denn uns tritt jemand entgegen, der völlig außerhalb unserer Strukturen von Rache und Ordnung steht.

Stellen Sie sich einmal vor, wie das ist, wenn Ihnen Ihr vergebendes Opfer entgegenkommt. Es ist wirklich sehr schwierig, lange darüber nachzudenken, dass unser vergebendes Opfer uns entgegenkommt. Wie ist das, wenn tatsächlich an und mit einem Vergebung geschieht? Wir tendieren dazu, diese Frage dadurch aufzulösen, dass wir sagen: „Oh, es geht nicht darum, dass einem vergeben wird, sondern dass man selber vergibt: Ich muss vergeben!“ Und so verfallen wir der moralischen Stumpfsinnigkeit und bemühen uns verzweifelt „dem Mistkerl zu verzeihen!” Dies wird sehr sehr kompliziert. Tatsächlich ist das christliche Verständnis allerdings genau das Gegenteil: Genau deshalb, weil mit uns und an uns Vergebung geschieht, können auch wir vergeben; und wir müssen vergeben, damit Vergeben weiterhin mit uns und an uns geschehen kann. Vergessen wir dabei nicht: Genau weil unser Opfer auf uns zukommt, beginnen wir, uns zu lösen. In Paulinischer Sprache heißt das: „Ihr wart tot infolge eurer Sünden aber er hat euch mit Christus zusammen lebendig gemacht”. Jemand ging auf uns zu, als wir noch nicht einmal wussten, dass da ein Problem war, damit wir feststellen konnten: „Oh! Also das war es, woran ich beteiligt war.“

In diesem Bild, und das ist für uns unbedingt wichtig, ist die Sünde nicht etwa ein Klotz, den man angehen muss, sondern sie wird aufgedeckt, indem sie vergeben wird. Die Definition von Sünde wird dann: das, was vergeben werden kann.

Und der Prozess des Vergebenwerdens sieht wie ein Brechen des Herzens aus, einer Reue [Englisch „contrition”], die sich aus dem Lateinischen cor triturare ableitet. Im Leben eines Menschen sieht die Vergebung wie das „Brechen des Herzens“ aus; und der Zweck des Vergebenwerdens, der Grund aus dem das vergebende Opfer aus dem Allerheiligsten hervortrat und sich selbst als, als Ersatz für alle unsere Arten, das Vergebenwerden von uns wegzuschieben und Ordnung zu halten anbot, der Grund für das, was er tat ist, dass wir dazu zu gering sind. Wir leben in einer verhedderten Version der Schöpfung, und wir halten an dieser verhedderten Version der Schöpfung fest, weil wir Angst vor dem Tod haben. Jesus eröffnete die Vision des Schöpfers, der keinen Tod kennt, damit wir so leben können, als ob es keinen Tod gäbe. Anders gesagt, wurde uns ein größeres Herz gegeben. Darum geht es bei der Vergebung. Es bedeutet nicht etwa: „Ich muss euer moralisches Problem beseitigen“, sondern es bedeutet: „Wenn ich nicht auf euch zugehe und euch das Zerbrechen eurer Herzen ermögliche, lebt ihr in einem viel zu kleinen Universum und könnt euch nicht des Lebens erfreuen und frei sein. Wie, um Gottes Willen, kriege ich das nur in eure Köpfe? Die einzige Art ist es wohl, als euer Opfer zu euch zu kommen. Das ist der Platz, den einzunehmen ihr so eine Angst habt, dass ihr alles tut, um ihm zu entkommen. Und so nehme ich diesen Platz ein und komme zu euch zurück und sage, „Ja, dies habt ihr mir angetan. Aber macht euch keine Sorgen! Ich bin nicht hier, um euch anzuklagen. Ich bin hier, um mit euch zu spielen! Um euch einen größeren Raum zu schaffen. Und damit ihr gemeinsam mit mir diesen größeren Raum schaffen könnt.” Und die Art, auf die Jesus das durchführte, war die Einrichtung des Abendmahls, bei dem er sich selbst uns gab, damit wir zu ihm werden konnten.

Es ist ein risikoreiches Projekt. Genau darum geht es! Genau darum möchte ich die Idee der Schöpfung mit der der Sühne und Versöhnung vereinen und ihre priesterliche Dynamik aufdecken. Dies ist Gottes risikoreiches Projekt, der sagt: „Wir wissen noch nicht, wie es werden wird. Aber ich möchte, dass ihr zusammen mit mir an diesem kreativen Projekt teilnehmt. Und das bedeutet, dass ich es riskiere, dass es in Richtungen geht, an die ich nicht gedacht hatte, denn ich möchte einer von euch werden, damit ihr zu mir werden könnt.” Man findet dies im Johannesevangelium [11]: „Ihr werdet noch größere Dinge tun“. Und wir denken dabei: „Ach, der Jesus zeigt sich, was seine Wunder angeht, bescheiden.“ Das ist nicht richtig, er ist anthropologisch völlig eindeutig. In dem Maß, in dem wir durch Annahme dieses Opfers lernen, aus einer Welt herauszutreten, die Opfer bringt und ihre Angelegenheiten schützend gegen „die anderen” und über sie hinweg stellt, in dem Maß stellen wir fest, – stellten wir fest! -, dass wir größere Dinge taten, als selbst er sich das vorstellen konnte. Das ist es, was geschieht, wenn die Schöpfung eröffnet ist.

Die Öffnung der Schöpfung erfolgt in unserer Mitte durch den Heiligen Geist, den Fürsprecher und Verteidiger, der daher jede anklagende Tendenz ablehnt. Solange wir anklagen leben wir in einer Verschwörungstheorie, lernen nie, was ist, und lernen daher auch nie, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Wir lernen nie, die Schöpfung in aller Fülle zu bewohnen.

Erkennen Sie, dass Sühne und Versöhnung eine große Bewegung beinhalten? Die Bewegung von der Schöpfung zu uns macht uns zu Teilnehmern an der Schöpfung, indem es uns ermöglicht wird so zu leben, als ob es keinen Tod gäbe. Dies ist das priesterliche Muster der Sühne und Versöhnung, das Jesus genial mit dem ethischen Muster verband, und so die uralten liturgischen Formeln zusammenbrachte, die Prophezeiungen, die Hoffnung auf Erfüllung durch den Gesalbten, den wahren Hohepriester, der kommen sollte, den neuen Tempel zu schaffen, den wahren Hirten der Schafe, der kommen sollte, den neuen Tempel zu schaffen – er erfüllte all dies und offenbarte seine anthropologische und ethische Bedeutung: die Überwindung unserer Tendenz, andere zu opfern, um selbst zu überleben. Das ist die Welt, in der wir dank ihm leben.

Verstehen Sie nun, warum ich sagte, dass ich ein viel konservativeres Bild aufzeigen möchte, als es die Theorie der stellvertretenden Sühne erlaubt? Was wir erhalten ist ein Zeichen von etwas, das geschah und uns gegeben wurde. Was für uns schwer ist, ist nicht etwa, die Theorie zu verstehen, sondern zu versuchen uns die dahinterstehende Liebe vorzustellen. Warum sollte irgendjemand so etwas für uns tun? Das ist es, worum es Paulus geht. „Was ergibt sich nun, wenn wir das alles bedenken? Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns? Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? [12] Paulus kämpft um eine Formulierung über die göttliche Großzügigkeit. Sie ist es, was wir uns nur so sehr schwer vorstellen können. Wir denken an Vergeltung, wir können uns ein Beschützen vorstellen; aber wir finden es unglaublich schwierig uns vorzustellen, dass jemand, den wir verachteten und der glücklicherweise ganz anders war als wir, dass so ein Mensch großzügig in unserer Mitte erscheint, um uns freizusetzen und es zu ermöglichen, dass für uns etwas ganz Neues aufgetan wird. Aber bei der Sühne und Versöhnung geht es gerade darum, dass wir ermächtigt werden, uns genau diese Großzügigkeit vorzustellen; und genau das ist es, was wir liturgisch als Christen ausleben sollen.

Endnoten

[1] The Great High Priest: The Temple Roots of Christian Liturgy. London: Continuum 2004.

[2] The Revelation of Jesus Christ. Edinburgh: T&T Clark 2000.

[3] Derretts. Law in the New Testament (London: DLT 1970) ist ein Klassiker, und seine mehreren Bände mit dem Titel Studies in the New Testament (Leiden: Brill) sind Juwelen für die, die das Glück haben, auf sie Zugriff zu haben.

[4] In mehr Arbeiten, als an dieser Stelle angegeben werden kann. Wir empfehlen Palaver, Wolfgang: René Girards mimetische Theorie. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen (Beiträge zur mimetischen Theorie 6). Münster 3. Ausgabe 2008.

[5] Dass die christliche Tradition dies nie ganz vergessen hat, ist aus Giottos Kreuzigung in der Scrovegni Kapelle ersichtlich (1303-6), auf dem die Robe eindeutig priesterlich ist.

[6] Eine besonders schönen Lesart hierzu findet sich bei Rowan Williams’ „Between the Cherubim: the empty tomb and the empty throne” in On Christian Theology. Oxford: Blackwell 2000, S 183-196.

[7] Sirach 50 hat eine wunderbare Beschreibung aus der Zeit des 2. Tempels, in der der Hohepriester Simeon diese Liturgie ausführt, in der viele der althergebrachten Elemente klar erkennbar sind.

[8] 2 Sam 21:1-9.

[9] The Revelation of Jesus Christ. Edinburgh: T&T Clark 2000.

[10] Röm 8:31-32.

[11] Johannes 14:12.

[12] Röm 8:31-32.


© 2002 James Alison. Translation by Erika Baker